Freitag, 29. März 2024

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Eine Parabel über Willkür und Unrecht

Gestern Nacht habe ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder von Julian geträumt. Wir waren etwa fünfzehn Jahre alt, er stand vor der Haustür zur Jablonskistraße 53, lächelte mir zu und fragte: "Wo warst du so lange?" Es war ein wirklichkeitsnaher Traum, und Julians Gesicht erschien mir so vertraut, dass ich vor Schreck und Über- raschung kein Wort herausbrachte. "Sprichst du nicht mehr mit mir?" fragte Julian. Und dann war er plötzlich fort. "Jule!", rief ich – und dann jagte ich im Traum durch die Straßen und suchte ihn.

Ein Beitrag von Joachim Scholl | 22.01.2005
    Dieser Traum, mit dem Klaus Kordon seinen Roman eröffnet, ist zugleich eine Erinnerung: an jenen Tag im Winter 1945, als der 16-jährige Paul durch die Ruinenwüste Berlins irrte. Um Julian wieder aufzuspüren, Julian, seinen besten Freund, der aus Verzweiflung weggelaufen war aus der Wohnung von Pauls Familie, die den jüdischen Jungen über Monate versteckt hatte. Julians Eltern waren bereits deportiert worden, in ein KZ im Osten, sie sollten nie zurückkehren. Dieses Schicksal wird Julian erspart bleiben, er überlebt und ist zunächst genauso erleichtert wie Paul, der noch als Flakhelfer kämpfen musste und beinahe als Deserteur erschossen wurde. Doch dann sind die sowjetischen Befreier da, der Nazi-Terror hat nach 12 Jahren ein Ende.

    Das ist die eine Geschichte, die Klaus Kordon seinen Helden Paul erzählen lässt. Sie geht noch gut aus. Aber dann setzt eine zweite Geschichte ein – mit einem Hilfeschrei von Bille, Pauls Schwester und Julians große Liebe. Bille wird von russischen Soldaten vergewaltigt. Als Julian und Paul ihr zu Hilfe eilen wollen, werden sie geschlagen und verhaftet. Und so landet der glücklich entronnene Jude Julian doch im Konzentrationslager, zusammen mit Paul, beide gelten nun als faschistische Widerständler. Ist das zu fassen? Klaus Kordon hatte nach dem Abschluss seiner großen Roman-Trilogie über historische Wendepunkte – 1918, 1933, 1945 – eigentlich genug von diesen dramatischen Zeiten und deutsch-düsterer Geschichte. Er wollte über anderes schreiben...

    ...aber dann hat mich eines Tages ein Berliner Jude angerufen und gefragt, ob ich Erich Nehlhans kenne. Ich sagte "Nein, nie gehört, den Namen", und da sagte er mir, dass Erich Nehlhans der erste Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Berlin nach dem Krieg gewesen sei. Er hätte die 12 Jahre Nazi-Zeit im Untergrund überlebt und sei kurze Zeit später von den Befreiern, den Russen, gefangengenommen worden und wäre dann in einem russischen Lager umgekommen. Und diese Geschichte fand ich so widersinnig beim ersten Hören und hat mir zugesetzt, und ich habe darüber nachgedacht. Ich habe mich dann beschäftigt mit den Internierungslagern der Russen. Ich gewusst, dass es sie gab, aber was wirklich dort geschehen ist – davon habe ich keine Ahnung gehabt wie die meisten Leute, die einfach nur mal sowas gehört hatten.

    Über 120.000 Menschen wurden von den Sowjets nach 1945 in Lagern interniert, mehr als ein Drittel kam dabei ums Leben. Berüchtigt war das Lager Buchenwald. Dort werden Julian und Paul hungern und die Welt nicht mehr verstehen, über Jahre. Eine Anklage, ein Gerichtsurteil gibt es nicht. Der Widerstand gegen die Gewalttat reicht aus, um sie in den Verdacht zu bringen, sog. "Werwölfe" zu sein: Mitglieder jener ominösen Kinder-Partisanen-Organisation, die von den Nazis kurz vor Toresschluss ausgerufen wurde. De facto hat es sie nie gegeben, doch die Propaganda wirkte zumindest unter den Alliierten: Allein in den sowjetischen Lagern vegetierten 12.000 Jugendliche als vermeintliche "Werwölfe". Auch diese Zahl fand Klaus Kordon ebenso beklemmend wie das Tabu, das jahrzehntelang darüber herrschte. In der DDR war die Nachkriegs-Politik der Sowjetunion sakrosankt, in der Bundesrepublik geriet man in den Ruch des kalten Kriegers, der den nationalsozialistischen Schrecken relativiert. Kann man jetzt die ganze Wahrheit schreiben?

    Ich glaube, dass wir allgemein viele Jahre einem Fehler nachgehangen haben: dass nämlich unsere Geschichten immer mit 1945 endeten, nach dem Motto "Jetzt war der Krieg vorbei, jetzt konnte ja alles nur besser werden". Dass es aber für viele jahrelang nicht besser geworden ist – ich brauche nur an die letzten Kriegsgefangenen zu erinnern, die erst 1956 nach Deutschland zurückkehrten - dass der Krieg noch für viele Menschen sehr viel länger gedauert hat: das ist Tatsache, und die wird kaum erwähnt. Ich war dann in der Bredouille: Entweder du schreibst darüber, und dann musst du über "alles" schreiben, wie es gewesen ist, du darfst nichts verniedlichen – oder du schreibst gar nichts drüber.

    Da hatte ihn der Stoff natürlich längst gepackt, und gerade dieses Heikle, Belastete an der Thematik macht den großen Reiz des Buches aus. Es ist eine Parabel über Willkür und Unrecht, wie sie im Krieg stets auf beiden Seiten vorkommen. Schon im ersten Teil des Romans klingen die Widersprüche und das historische Dilemma an, das die Debatte bis heute bestimmt. Der Erzähler Paul ist nun alles andere als ein Nazi, aber die Bombennächte im Keller erfüllen ihn doch mit Wut. Rechtfertigt das Ziel, Hitler zu besiegen, den Tod von Zehntausenden von Zivilisten? Und erlebt man den Hass der Befreier, der sich in massenhafter Vergewaltigung austobt, am eigenen Leib, mindert das Bewusstsein, dass die Grausamkeit auf deutscher Seite begann, kaum den Schmerz und das Gefühl der Ungerechtigkeit. Klaus Kordon weiß, wie gefährlich nah am Ressentiment man hier arbeitet, aber es gelingt ihm, auch diese Empfindungen als menschliche und oftmals verständliche Reaktion plausibel zu machen. Ganz schön komplex für ein jugendliches Publikum, könnte ein Einwand lauten. "Ein bisschen heavy vielleicht", sagt der Autor, bleibt aber seinem Credo treu, nachdem man Kinder nicht nur immer trösten sollte. Sondern zwischendurch auch beunruhigen.

    Und da sage ich "Ja", das darf man machen, aber natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Also, das Buch ist jetzt wirklich nichts für Zehn- oder Zwölfjährige, das ist ein Buch für Jugendliche ab vierzehn, fünfzehn, und ich glaube, in diesem Alter kann man das Buch gut lesen. Ich muss da auch an mich selber denken: Ich habe so mit dreizehn, vierzehn die ersten Bücher über KZs gelesen, in denen ich furchtbare Sachen erfahren habe. Ich war schon auch verletzt beim Lesen, als junger Mensch, das Menschen so etwas anderen Menschen antun können. Aber es hat mir auch gleich unsere Welt erklärt und gezeigt, was alles möglich ist. Ich glaube nicht, dass es schlecht für mich war.

    Klaus Kordon bezeichnet sich selbst als "Kind deutscher Geschichte". Sein Großvater fiel im Ersten Weltkrieg, der Vater im Zweiten, die Heimat Berlin war ein Trümmerfeld, als Klaus Kordon 1943 zur Welt kam. Die 50er Jahre, Mauerbau und Kalter Krieg – Geschichte, sagt Klaus Kordon, war immer gegenwärtig, bis hin zum Knast, in den ihn die Stasi steckte, bevor er in den 70er Jahren in den Westen durfte.

    Wie in zahlreichen seiner Bücher wird auch in "Julians Bruder" Geschichte aus der Perspektive der kleinen Leute und ihres Alltags erzählt. Hier ist Klaus Kordon ein Meister des Details. Mit dem Erzähler Paul erlebt, spürt, schmeckt, riecht der Leser die 30er Jahre in einem aufregenden Berlin. Was sich auf den Straßen, in den Wohnungen, in Kinos und Parks so tut – und wie gleichzeitig die Entrechtung und Diskriminierung der Juden beginnt: allmählich, Schritt für Schritt, mit Verboten, Erlassen, bis dann die offene Verfolgung eintritt. Man kennt natürlich die Vorgänge, man weiß um diese Geschichte, und doch wirkt sie gerade durch die Schilderung ihrer "Alltäglichkeit" mit bedrückender Macht. Immer wieder ist Klaus Kordon dieses außerordentliche Talent bescheinigt worden, mit Takt und Einfühlung "Geschichte von unten" zu schreiben. Für ihn ist das selbstverständlich – aus Prinzip und Neigung.

    Ich könnte Geschichte gar nicht anders erzählen, weil mich die "Oberen" gar nicht so interessieren. Entweder waren die oben immer die Täter, oder aber haben Sie nie so gelitten wie die unten. Ich will ein Beispiel nennen: Mein Buch über den Ersten Weltkrieg 1918, das hätte auch aus der Sicht einer Familie im Grunewald spielen können. Die hätten dann vielleicht irgendwelche Gemälde verkauft oder andere Gegenstände, um wieder etwas zu essen zu haben. Die hätten nicht gehungert. Die Leute im Wedding in Berlin, die konnten nichts verkaufen, die haben gehungert, die sind krepiert an diesem Krieg, in der Heimat. Und ich glaube, wenn man man Geschichte erzählen will, muss man sie immer aus der Sicht derer erzählen, die unter dem, was die oben machen, am meisten zu leiden hatten. So wird sie für spätere Jahrgänge am leichtesten fassbar.

    "Julians Bruder" ist ein hartes Buch. Und ein trauriges, in dem nicht viele Hoffnungsschimmer blinken. Die spannende und glänzend inszenierte Geschichte von Julians Überlebenskampf im Untergrund, die vielen Milieu-Szenen in Pauls Familie, die Berlin-Atmosphäre garantieren eine kurzweilige Lektüre – und doch liest man die ganze Zeit mit einem Kloß im Hals. Von Beginn an ahnen wir das Verhängnis, das über der schönen und rührenden Freundschaft zwischen Paul und Julian schwebt. Denn in diesem Traum, den Paul anfänglich träumt, stecken schon Schmerz, Abschied und die Erkenntnis, dass manche Dinge immer wehtun werden.

    Jener Tag! So lange her – und mir noch immer so nah. Die Freundschaft zu Julian, sie hatte meine ganze Jugend bestimmt. Ich glaube nicht, dass es viele Menschen gibt, die das Glück hatten, eine solche Freundschaft zu erleben. Noch dazu in dieser Zeit. Doch habe ich dafür einen Preis zu bezahlen – die Träume, die mich bis heute verfolgen. Was geschehen ist, will einfach nicht vorübergehen, immer wieder muss ich alles neu erleben.

    Klaus Kordon, Julians Bruder. Roman. Verlag Beltz & Gelberg. 623 Seiten. 18,90 Euro.