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Eine Perle des brasilianischen Cinema Novo

Nelson Pereira dos Santos gilt als der Stammvater des neuen brasilianischen Kinos - dem Cinema Novo. Mit seinem Film "Vidas Secas/ Nach Eden ist es weit" schaffte er den internationalen Durchbruch und machte das brasilianische Kino auch auf den Filmfestspielen in Cannes bekannt.

Von Peter B. Schumann | 22.08.2013
    Eine ausgedörrte Steppenlandschaft im Nordosten Brasiliens und ein enervierender Ton – so beginnt Vidas Secas/ Nach Eden ist es weit, das Meisterwerk von Nelson Pereira dos Santos, ein Meilenstein des lateinamerikanischen Films. Der Regisseur beschreibt einen Zustand: die Misere der Landarbeiter, ihre Abhängigkeit von der Gnade der Großgrundbesitzer. Fabiano und seine Familie sind auf der Flucht vor der Dürre, auf der Suche nach Arbeit. Er kann sich als Viehtreiber verdingen, wird aber um seinen geringen Lohn betrogen und erträgt die Ausbeutung als das gottgewollte Schicksal der Armen in einer feudalen Gesellschaft.

    Das quälende Quietschen verursacht ein zweirädriger Holzkarren, ein in der Region des Sertão übliches Elendsgefährt. Am Anfang des Films ist es ein alarmierendes Signal und am Schluss das einzige Zeichen des Aufbegehrens. Denn Nelson Pereira dos Santos wollte mit Vidas Secas, uraufgeführt am 22. August 1963, vor allem den gleichnamigen Roman von Graciliano Ramos werkgetreu verfilmen. Der berühmte brasilianische Schriftsteller hatte ihn in den 30er Jahren verfasst, und damals dachte niemand an Revolution. Sie entsprach auch nicht der Grundhaltung des Regisseurs, der 1968 sagte:

    "Viele haben mir vorgeworfen, dass ich nur die Umstände des Elends, der Armut und Rückständigkeit geschildert hätte, ohne mich mit der Revolte dieser Menschen zu solidarisieren. Ich glaubte damals, es genüge zu zeigen, dass Menschen im Elend leben, gefesselt an ihre Riten und verurteilt zum Sterben."

    Nelson Pereira dos Santos gilt als "Stammvater" des Cinema Novo, des neuen brasilianischen Kinos. Er war ein Jahrzehnt älter als die meisten Filmemacher, die dann mit ihm für den Aufschwung sorgten. Als Nelson Pereira dos Santos Mitte der 50er Jahre mit dem Filmen begann, erlebte das brasilianische Kino gerade eine seiner vielen Krisen. Die Produktion lag praktisch lahm. Dennoch versuchte er es mit Hilfe von Freunden – eine auch für die jüngeren Filmemacher damals typische Situation.

    "Wir schlossen uns zu einer Gruppe auf mehr oder weniger kooperativer Basis zusammen und begannen, ein altes Projekt von mir zu verwirklichen: Rio bei 40 Grad. Wir besaßen nur ‚eine Idee im Kopf und eine Kamera in der Hand‘ – wie das Glauber Rocha einmal genannt hat. Alles Übrige mussten wir mühsam zusammensuchen: Das Equipment und den Rohfilm, und als Darsteller diente uns einfach die Bevölkerung von Rio. Bis wir wirklich anfangen konnten, verging ein Jahr. Aber wir wollten Filme machen: brasilianische Filme, die die Realität des Landes ausdrückten."

    "Rio bei 40 Grad" war der Vorläufer, und Nelson Pereira dos Santos der Regisseur, der bewies, dass selbst unter widrigen Umständen ein neues brasilianisches Kino entwickelt werden konnte. Ein knappes Jahrzehnt später erstaunte dieses Cinema Novo auf den Festivals in Cannes, Berlin und Venedig die internationale Öffentlichkeit. Wieder ging Nelson Pereira dos Santos voran, diesmal mit "Vidas Secas/ Nach Eden ist es weit".

    Er erzählt die Geschichte wortkarg und schnörkellos, fast dokumentarisch, verzichtet völlig auf jegliches musikalisches Beiwerk, lässt den Originalton "sprechen". Die "kargen Leben" – wie der Filmtitel wörtlich übersetzt heißt – finden ihren Ausdruck in einer höchst intensiven Bildgestaltung, die keiner Zuspitzung bedarf. Dazu trägt wesentlich Kameramann Luis Carlos Barreto bei, dem es erstmals gelingt, die Gluthitze des Sertão sichtbar zu machen.

    Der Schluss enthält einen Hoffnungsschimmer. Die kleine Landarbeiter-Familie muss sich erneut auf die Suche nach Arbeit begeben, und Vitória, die Frau von Fabiano, erzählt ihm von ihrem größten Wunsch: die Kinder zur Schule zu schicken, damit sie lesen und schreiben lernen und sich einmal ein besseres Leben leisten können, "denn man kann doch nicht ewig so leben wie ein Tier". Das sieht sogar der sonst sehr fatalistische Fabiano ein: "Nein, so kann man nicht leben." Die letzten Worte auf dem Weg in die Zukunft.