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Eine radikale Weihnachtsgeschichte

Jon Fosse ist einer der meistgespielten europäischen Dramatiker der Gegenwart. Seine nun auf Deutsch erschienene Erzählung "Schlaflos" versetzt die Weihnachtsgeschichte ins Jetzt. Archaisch und gleichzeitig zeitlos-aktuell schildert er die Suche eines Paares nach einer Bleibe und zieht ein radikales Fazit: Wenn die Mittellosen keinen Platz finden, werden sie sich einen nehmen - ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

Von Thomas Böhm | 12.02.2009
    Ein Mann und eine Frau suchen in einer bitterkalten, verregneten Nacht eine Bleibe. Überall, wo sie anklopfen, werden sie abgewiesen, obwohl die Frau hochschwanger ist. So beginnt die Erzählung "Schlaflos" von Jon Fosse, dem meistgespielten europäischen Dramatiker der Gegenwart. Dass Fosse mit seinem Text eine der Urszenen der christlichen Kultur variiert hat, war ihm zunächst nicht bewusst.

    "Es ist nicht so, dass ich mir Stil und Erzählung eines Textes ausdenke, sondern Stil und Erzählung wählen mich. Was nun 'Schlaflos' im Speziellen angeht, war ich dumm genug, beim Schreiben nicht zu sehen, dass man es als die Weihnachtsgeschichte sehen kann. Der Grund dafür ist einfach: Es geht einfach um zwei junge Menschen, die versuchen, einen Ort zu leben und eine Art zu leben zu finden. Das ist eine ganz schlichte, allgemeine Situation."

    Schauplatz der Geschichte des jungen Paares Alida und Alse ist Björgvin, so lautet der altnorwegische Name Bergens, des Heimatortes von Jon Fosse an der Westküste Norwegens. Auch "Anwake" der Originaltitel der Erzählung ist ein altnorwegisches Wort. Mit solchen Rückgriffen auf nicht mehr gebräuchliche Worte schafft Fosse - und in bewundernswert gelungener Weise auch sein Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel - ein Szenario, das oft archaisch, dann aber - vor dem Hintergrund der globalen Migrationsbewegungen - zeitlos-aktuell wirkt, wenn unvermittelt Sätze auftauchen wie "hier brauchen wir nicht noch mehr Fremde" oder "So ist das einfach: den einen gehört etwas, den anderen gehört nichts. Und die, denen was gehört, bestimmen über die, uns, denen nichts gehört."

    Diese politischen Momente lassen sich leicht überlesen, versetzt der Text seine Leser doch in eine Art Trance. Dies geschieht mittels Wiederholungen und Wiederholungsmuster, und dem für Fosse typischen, beinahe vollständigen Verzicht auf Satzzeichen. So verliert das lesende Auge zunehmend seine Orientierungspunkte, gerät in einen Zustand des Schwebens durch die Zeilen.

    "Ich versuche beim Schreiben etwas zustande zu bringen, was meinem Erleben von Musik ähnlich ist. Ich schreibe fließend und benutze Kommas vor allem in der Prosa, im Theater benutze ich gar keine, da schreibe ich "Pause", "kurze Pause", "lange Pause" oder benutze den Zeilensprung für dasselbe, was das Komma in der Prosa bewirkt. Und ein Punkt ist ein sehr starkes Mittel. Es gibt den Fluss und dann hält man hier und dann hält man hier. Das ist für mich einfach ein Mittel, eine Bewegung, um ein Fließen zu kreieren, und dann eine Bewegung im Text, ein Innehalten und ein Weitergehen zu kreieren."

    Wenn Fosse über seine Arbeit spricht, fällt häufig das Wort "einfach". Seine Theaterstücke wie seine Prosatexte lassen sich auf einen Nenner bringen: Einfache Menschen mit einer einfachen Sprache geraten in Situationen, in denen ihre Sprache nicht mehr ausreicht.

    Spät in der Nacht greift Asle zu radikalen Mitteln, um seiner entkräfteten, schwangeren Frau einen Ort zum Ausruhen zu beschaffen: Er dringt in ein Haus ein, geht mit der Hausbesitzerin, von der er nicht weiß, dass es die Hebamme des Ortes ist, in ein Hinterzimmer. Die Hebamme taucht im Text nicht wieder auf.

    Wenn die Mittellosen keinen Platz finden - und sollte ihnen in einer christlich fundierten Gesellschaft nicht immer ein Platz zur Verfügung stehen, da sie doch die Erlösung der Welt in sich tragen könnten? - werden sie sich einen Platz nehmen. Ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Die Trostlosigkeit dieser Aussicht ist für die Leser umso größer, als dass sie das junge Paar nicht nur als unschuldige Liebende kennengelernt haben, sondern Asle auch ein von Natur aus begabter Künstler ist, ein Fidelspieler, dessen Musik, wie es an einer Stelle heißt, das "Dasein erhob" und "ihm eine Höhe gab, ob jetzt zu einem Leichenbier oder zum Brautfest gespielt wurde oder die Leute einfach zusammenkamen zu Feier und Tanz".

    Fosses nicht einmal achtzigseitige Erzählung gibt, wie Asles Fidelspiel, dem Dasein Höhe. In einer Sprachmusik, wie es sie zurzeit nur ganz selten gibt, erklingt Fosses einfaches, bewegendes, trauriges Lied.

    "Der gute alte Hendrik Ibsen hat in einem seiner Stücke geschrieben: 'Ich erhielt der Trauer Gabe und ward darum zum Sänger.' Und das ist sicher richtig. Nicht weil irgendjemand, Du oder ich oder irgendjemand, es furchtbar schwer hat im Leben. Das Leben selbst hat in sich etwas Trauriges. Und die Literatur deswegen auch. Die Literatur hat etwas Trauriges in sich und genau das ist es, was das Leben lebbar macht."

    Jon Fosse: Schlaflos
    Übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel
    Rowohlt Verlag, 78 Seiten, 14,90 Euro