Dienstag, 16. April 2024

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Eine Reise durch das kriegszerstörte Europa

" Es war interessant für mich, mich an die Geschehnisse zurück zu erinnern und an die Leute, die ich kennen lernte, an den Schrecken und die Freude die ich verspürte, an den Triumph des Abenteuers, den das Ganze für mich darstellte. Aber wie sich zeigte, war es weit mehr als das: Ich realisierte, dass jenes Jahr, das ich in Osteuropa, Frankreich und England verbrachte, mich davon abhielt, mich weiterhin ausschließlich mit mir selber zu beschäftigen. Man füllt die Welt mit dem eigenen Selbst. Es handelt sich dabei nicht um Egozentrik. Narzissmus ist kein Vergnügen. Aber das Ich füllt die Welt. Und ich kam davon los. Wegen jenem Jahr in Europa. "

Von Sacha Verna | 28.04.2006
    Mit diesen Worten beschreibt Paula Fox die Entstehung ihres Memoirenbandes "Der kälteste Winter - Erinnerungen an das befreite Europa". Die dreiundachtzigjährige amerikanische Schriftstellerin berichtet darin, wie sie im eisigen Winter 1946 im Auftrag einer kleinen Londoner Nachrichtenagentur durch das kriegszerstörte Europa reiste, um das zu liefern, was wir heute wohl als Sozialreportagen bezeichnen würden.

    "Der kälteste Winter" ist nach "In fremden Kleidern - Geschichte einer Jugend" der zweite Band mit Erinnerungen, den Paula Fox in den letzten fünf Jahren veröffentlicht hat. Memoiren von einer Autoren, die aufgehört haben will, sich mit sich selber zu beschäftigen? Wer darin einen Widerspruch sieht, wird es noch überraschender finden, dass Paula Fox auch ihr literarisches Werk - sechs Romane und zahlreiche Kinderbücher - als größtenteils autobiografisch charakterisiert. Doch Fox präzisiert:

    " Die meisten Schriftsteller, die ich mag, haben sich von der Besessenheit mit dem eigenen Ich befreit. Sie haben verstanden, dass wir alle gewisse menschliche Eigenschaften teilen, die niemand für sich allein beanspruchen kann. Diese Einsicht führt zu einer Vorurteilslosigkeit, zu einer Distanz sich selber gegenüber. Man sieht sich als Teil von allem, anstatt alles als Teil von sich selbst. "

    Tatsächlich handelt "Der kälteste Winter" nicht von den Befindlichkeiten der Erzählerin, der jungen Frau, die Paula Fox 1946 war. Sie bildet lediglich den Ausgangspunkt und fungiert als Beobachterin, als Sammelbecken für Eindrücke. Da ist die Stille im Warschauer Ghetto, während in anderen Stadteilen über Lautsprecher Chopin erklingt. Da ist das Jagdschloss eines preußischen Adligen, das in ein Erholungsheim für Waisen umgewandelt worden und zu einer Art Hochburg für Träume und Traumata im Tatragebirge geworden war. Da ist der Mann, dessen Zwillinge Josef Mengeles Experimenten in Auschwitz zum Opfer gefallen waren und dessen Frau in einem Konzentrationslager in der Nähe von Prag umgebracht worden war. Er würde, so schreibt die Autorin, "für immer zwischen wütendem Gelächter und lauter Wehklage gefangen bleiben". Und überall präsent ist der Tod. Noch einmal erinnert sich Paula Fox im Gespräch an ihre Gänge durchs Warschauer Ghetto:

    " Darüber habe ich nicht geschrieben, aber ich sah einen grossen Wagen mit vier Brauereipferden Trümmer wegkarren. Und in den Trümmern entdeckte ich eine Lorgnette und eine Puppe. Da wusste ich, dass es stimmte, was ich gehört hatte: 150000 lagen unter den Ruinen im Schnee. 150000 Menschen, die beim Aufstand umgekommen waren. "

    "Der kälteste Winter" ist keine umfassende Darstellung Europas nach dem Krieg. Was Paula Fox schildert, sind Ereignisse und Begegnungen, intime Momente mit Menschen und Orten nach der Katastrophe. Es fehlt jegliche Rührseligkeit und Effekthascherei und doch oder gerade deshalb zeugt jeder Satz in diesem Buch von Paula Fox’ Einfühlungsvermögen. Sie berichtet, ohne zu richten. Sie versteht, ohne vorher zu wissen.

    Es ist diese bemerkenswerte Mischung aus Zurückhaltung und Direktheit, die auch Paula Fox’ Romane auszeichnet. Als Erzählerin bewegt sich Fox in einem Raum, der ebenso frei ist vom Abfall des eigenen Egos wie von den Verführungen allzu leicht applizierbarer Denkmuster. Paula Fox gelingt es, minimale Regungen der Seele genauso präzise zu schildern wie banalste Verrichtungen. In "Lauras Schweigen" etwa, einem Roman über das Ungesagte in einer Familie, in der ständig geschwatzt wird, in "Lauras Schweigen" also, wird das Mixen eines Cocktails zur dramatischen Geste. In "Was am Ende bleibt", bringt eine streunende Katze das Kartenhaus namens Alltag zum Einsturz, in dem sich ein Ehepaar so gemütlich eingerichtet hatte. Stets ist die Erzählerin als Instanz präsent, sie besorgt die Mischung, aber sie mischt sich nicht ein.
    Auf die Frage, worin für sie der Unterschied besteht zwischen dem Schreiben eines Romanes und dem Aufzeichnen von Erinnerungen, meint Paula Fox:

    " Die Belichtung ist eine andere. Ich platziere die Scheinwerfer so, dass Dinge, die vorher im Dunkeln lagen, plötzlich im Licht erscheinen. "

    Der Schritt von der autobiografischen Fiktion zur Sammlung von Erinnerungen war für Paula Fox gleichwohl bedeutungsvoll. Das Schreiben in der ersten Person war ihr immer schwer gefallen und daran, ihre Memoiren zu verfassen, hatte sie nie gedacht. Doch nach einem brutalen Übefall, bei dem Paula Fox Hirnverletzungen erlitt, änderte sich das. Fox verbrachte Monate in Krankenhäusern und lernte nur langsam wieder zu lesen und zusammenhängend zu sprechen. Plötzlich erschien ihr das Erzählen in der Ich-Form viel einfacher:

    " Dann dachte ich, ich würde über meine Kindheit schreiben. Warum, weiß ich nicht genau. Vielleicht, weil ich merkte, dass ich eines Tages sterben werde. Sterben werde ich natürlich ohnehin, aber damals war dieses Gefühl viel unmittelbarer. Ich glaubte nicht, dass sich jemand für meine Erinnerungen interessieren würde. Doch mir waren sie wichtig. "

    So entstand "In fremden Kleidern", jenes Buch, durch das viele Paula Fox als Autorin für Erwachsene überhaupt erst kennen lernten. Denn Fox’ Romane waren lange Zeit vergriffen. Dies trotz der beharrlichen Fürsprache von jüngeren erfolgreichen Schriftsteller wie Jonathan Lethem oder Jonathan Franzen, der Paula Fox’ Werk in einem inzwischen legendären Essay für Harper’s Magazine über das von Saul Bellow, Philip Roth und John Updike hinaushob. "In fremden Kleidern" löste jedoch ein überwältigendes Echo aus. Fox erzählt darin, wie sie, von ihrem alkoholseligen Vater und ihrer neurotischen Mutter vernächlässigt, zwischen Verwandeten und Bekannten herumgeschoben wurde, zwischen New York, Hollywood und Kuba. Sie erlebte Überfluss und völlige Armut, Oscar Welles und F. Scott Fitzgerald, Zuckerrohrarbeiter und mildtätige Pastoren. Es ist erstaunlich, dass die Autorin ihre chaotische Kindheit offenbar ohne bleibenden seelischen Schaden überstanden hat. Viel erstaunlicher aber ist, dass es auch in "In fremden Kleidern" nicht um das frühe Elend der Paula Fox geht. Nie kommt Oh-je-was-war-ich-für-ein-armes-kleines-Ding-Atmosphäre auf. Das arme kleine Ding ist zu einer klugen, scharfsichtigen und sensiblen Schriftstellerin geworden, die in ihren Büchern nicht die Welt in sich drin erforscht, sondern die Welt um sich herum.

    Paula Fox: Der kälteste Winter
    Erinnerungen an das befreite Europa.
    Aus dem Amerikanischen von Ingo Herzke
    C.H. Beck Verlag, München 2006
    166 Seiten, 14.90 Euro