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Eine Reise durch fremde Welten

Vom Koran über schöngeistige Erbauungs- und Bildungsliteratur bis hin zu Werken des Philosophen Ibn Rushd: Die Anthologie "Tausendundeine Welt" bietet einen Querschnitt durch alle Gattungen der arabischen Prosa.

Von Stefan Weidner | 04.01.2008
    Die Rezeption der arabischen Literatur in Deutschland geht seltsame Wege. Die Märchen von Tausendundeine Nacht sind ebenso beliebt wie unsere eigene Märchentradition, aber danach kommt lange nichts, und es sind nicht die arabischen Klassiker, die wir dann kennen und lesen, sondern die modernen Romanschriftsteller und Dichter, Nagib Machfus, Tahar ben Jelloun oder Adonis.

    Zwischen Tausendundeine Nacht und der modernen arabischen Literatur liegt eine terra incognita ungeahnten Ausmaßes, voller ungehobener Schätze. Es ist diese Epoche, die für jeden arabischen Gebildeten den Ruhm der arabischen Literatur begründete wie für uns die Zeit Goethes und Schillers.

    Das vorliegende Buch ist ein erster, lang überfälliger Schritt, um diese gewaltige Rezeptionslücke zu schließen. Unser Bild der arabischen Kultur ist grob verzerrt, wenn es nur aus Koran, Religion, Tausendundeine Nacht und ein paar Modernen besteht, und die politischen Gefahren einer solchen Verzerrung liegen auf der Hand. Selbst in dieser Anthologie klassischer arabischer Prosa sind unsere Probleme mit der arabischen Welt unaufhebbar der Hintergrund. Sie werden nicht nur in den die Kontexte erläuternden Einführungen des Herausgebers Johann Christoph Bürgel angesprochen, sondern lassen unmittelbar sich aus den Texten herauszulesen. Hören wir, wie in den Sendschreiben der Lauteren Brüder von Basra im zehnten Jahrhundert der Dialog mit einem zu allem bereiten religiösen Fanatikers verläuft:

    Er sprach: Mir wurde eine göttliche Huld zuteil. Ich suche sie ganz zu erlangen, um der Religion Gottes zum Sieg zu verhelfen und die Feinde Gottes zu bekämpfen.

    Und wer sind die Feinde Gottes?

    Alle, die mir widersprechen in meinem Weg und meinem Glauben.

    Auch wenn es Monotheisten sind?

    Ja!

    Und wenn Du sie besiegst, was machst Du mit ihnen?

    Ich rufe sie auf, meinen Weg und meinen Glauben zu übernehmen.

    Und wenn sie es nicht annehmen?

    Dann bekämpfe ich sie und erkläre ihr Blut und ihren Besitz für verwirkt.

    Und wenn du das nicht vermagst über sie, was tust du?

    Dann erhebe ich Tag und Nacht meinen Ruf gegen sie und verfluche sie in meinem Gebet.

    Weißt Du denn, ob sie Schaden erleiden, wenn du sie verfluchst?

    Das weiß ich nicht. Aber wenn ich tue, was ich dir beschrieben habe, finde ich Ruhe für mein Herz und Labsal für meine Seele.

    Weißt du, warum das so ist?

    Nein, aber sag du es mir!

    Weil deine Seele krank ist, dein Herz gepeinigt, dein Geist bestraft.


    Ein solcher Text ist an Aktualität und psychologischer Wahrheit nicht zu überbieten, und er belegt nebenbei, dass die fundamentalistische Gefahr ebenso wie eine humane Entgegnung seit je in der islamischen Kultur selbst thematisiert worden sind.

    Wie bei allen Texten dieses Buches handelt es sich freilich auch beim Sendschreiben der lauteren Brüder um mittelalterliche Prosa aus einem fremden Kulturkreis; auf leichte Verdaulichkeit in der postmodernen westlichen Mediengesellschaft ist sie nicht angelegt. Dies zugestanden, überrascht dann aber doch, wie zugänglich diese arabische Prosa. Das gilt besonders für die sogenannte Adab Literatur. Adab, im modernen Arabisch das Wort für Literatur ganz allgemein, bezeichnete früher die schöngeistige Erbauungs- und Bildungsliteratur im weitesten Sinne. Oft handelt es sich dabei um Fabeln, Anekdoten oder halb historische Legenden. Einer der Meister dieser Gattung ist der 868 verstorbene Al-Dschahis. Sein "Lob des Buches" ist typisch für den belehrend-humorvollen Adab-Stil:

    Das Buch ist es, das den Menschen die Kenntnis der Religion ebenso wie jene des Rechnungswesens vermittelt. Es ist leicht zu befördern, klein an Umfang, schweigsam, solange du es schweigen, und beredt, sobald du es reden lässt. Wen sonst hast du als Abendgesellschafter, der dich nicht bei einer Tätigkeit stört, nicht ruft, während du beschäftigt bist, nicht nötigt, ihm schönzutun, noch dich von ihm rügen zu lassen? Wer besucht dich, wenn du es willst, zweimal hintereinander, ja stellt sich fünfmal bei Dir ein? Haftet, wenn du es willst, an dir wie ein Schatten und ist wie ein Stück von Dir?

    Es wäre kein Problem gewesen, die 500 Seiten des Buchs allein mit Adab-Literatur zu füllen. Der Herausgeber hat jedoch den Anspruch, einen Querschnitt durch alle Gattungen der mittelalterlichen arabischen Prosa zu bieten. Er beginnt mit einigen erzählerischen Partien des Korans und des Hadith, das heißt den Überlieferungen vom Wirken und von den Aussprüchen des Propheten Mohammed, und gelangt schließlich zu den noch heute oft überraschenden und betörenden Schriften der arabischen Mystiker. Ein weiteres umfangreiches Kapitel enthält wissenschaftliche, biographische und Reise-Literatur. Auch die arabischen Philosophen kommen in diesem Kapitel zur Sprache, und was der 1198 gestorbene Ibn Rushd, der lateinische Averroes, in seinem Kommentar zu Platos "Politeia" über die Frauen zu sagen wusste, ließe sich noch heute ebenso einer Eva Hermann wie religiösen Fundamentalisten entgegenhalten:

    In diesen unseren Staaten kennt man die Fähigkeit der Frauen nicht, weil man sie hier nur für die Fortpflanzung einsetzt. Deswegen stellt man sie zur Bedienung ihrer Ehemänner, zum Kinderaufziehen und zum Stillen an. Das macht ihre anderen möglichen Aktivitäten zunichte. Weil Frauen in diesen Staaten für keine der menschlichen Tätigkeiten für fähig gehalten werden, geschieht es oft, dass sie Pflanzen gleichen. Dass sie in diesen Staaten eine Last für die Männer sind, ist einer der Gründe der Armut dieser Staaten.

    Der Preis, den der Herausgeber für die erstaunliche Bandbreite der vorgestellten Texte zu zahlen hat, ist hoch. Ein philosophisches Schwergewicht wie Ibn Rushd wird auf zwei Seiten abgehandelt, und auch was die Erzählprosa betrifft, ist kaum ein Autor in befriedigendem Umfang vertreten. Auf diese Weise wird der Appetit geweckt, aber der anschließende Hunger nicht gestillt. Die Bibliografie könnte Abhilfe leisten, ist aber gerade in Bezug auf bereits vorhandene deutsche Übersetzungen unnötig lückenhaft.

    Das ist ärgerlich, schmälert aber nicht das Hauptverdienst des vorliegenden Bandes, nämlich endlich einen gangbaren Pfad durch den Dschungel der gesamten klassischen arabischen Prosaliteratur gebahnt zu haben. Diese für die heutige Orientalistik reichlich atypische Zusammenschau sei nicht zuletzt den sich zunehmend auf ihre Spezialdisziplin beschränkenden Islamwissenschaftlern empfohlen. Und wenn die Leser zahlreich genug sein werden, werden wir hoffentlich bald den noch ausstehenden zweiten Teil dieser Anthologie vorzustellen dürfen, die der Johann Christoph Bürgel seit längerem fertiggestellt hat, nämlich die noch berühmtere und hierzulande noch unbekanntere klassische arabische Lyrik.

    Johann Christoph Bürgel: Tausendundeine Welt. Klassische arabische Literatur
    Verlag C.H. Beck München 2007, 524 Seiten, 29,90 Euro