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Eine seltsame Frau

"Das Zimmermädchen" ist nicht der große Wurf wie Markus Orths' bisher bester Roman "Lehrerzimmer aus dem Jahr 2003. Dennoch wird man die abenteuerliche, urkomische und todtraurige Geschichte aber nicht. Man wird an das seltsame Zimmermädchen Lynn bei der nächsten Buchung eines Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels bestimmt denken.

Ein Beitrag von Hajo Steinert | 22.07.2008
    Es gibt seltsame Frauen. Lynn zum Beispiel. 1975 geboren, eins fünfundsechzig groß, ekelt sich vor Zeitungen. Sie läuft bei herrlichstem Sonnenschein mit dickem Pullover im Park herum, rennt im Kaufhaus hin und her, um die gleichen Waren in den Einkaufswagen zu legen wie Kunden, die tatsächlich etwas kaufen. Kein Zweifel: diese Frau ist verwirrt.

    Was sie gerne tut? Radieschen schälen. Noch lieber: putzen. Soeben aus einer psychiatrischen Klinik nach einem halbjährigen Aufenthalt entlassen und von Heinz verlassen, beginnt sie, sich die Daumennägel wachsen zu lassen - damit sich festklebender Schmutz an den Armaturen im Badezimmer besser abkratzen lässt. Lynn hat einen Job gefunden. Sie ist Zimmermädchen in einem Hotel.

    Dieses tägliche Abkratzen, Aufräumen, Zurechtücken, Putzen, Wischen, Glattstreichen, Überziehen, Lüften, Leeren, Schokolädchen aufs Kopfkissen legen und dergleichen mehr befriedet sie nicht nur - derlei Tätigkeiten erregen sie, bringen sie - der Autor meint es therapeutisch gut mit ihr - wenigstens für die Dauer der Tätigkeiten zu sich. Selten hat es in der Literatur, wenn es ihn darin überhaupt je gegeben hat, einen derart veritablen Putzfimmel gegeben wie in diesem Roman.

    Rasurhaare im Waschbecken? Zeichen herrlich normalen Lebens. Die Kulturbeutel der Hotelgäste? Werden mit detektivischer Genauigkeit unter die Lupe genommen. Kein Detail, das nicht Lynns Fantasie beflügelt. "Eine Herrenuhr auf dem Nachttisch? Der Mann wird unterwegs nach der Zeit fragen müssen." Ein einziges Tasten und Kramen, Schnuppern und Schnüffeln. Selbst gebrauchte Damenhöschen hält sie sich an die Nase.

    Großformatigere Kleidungsstücke zieht sie sich kurz mal über. Die Frau stülpt sich eine neue Identität nach der anderen über, ohne allerdings am Ende wirklich eine eigene zu erlangen. Das ist das Traurige an dieser Prosa, die sehr von den Inszenierungen an einem unrealistischen, bizarren, indes durchaus originellen Schauplatz lebt.

    Und so passiert, was einmal passieren musste. Während Lynn wieder einmal so im Zimmer herum macht, dieses Mal die Pyjamajacke des Gastes über die Putzuniform gezogen, hört sie jemanden draußen vor der Tür. Knisternde Spannung. Ein Kammerspiel nimmt seinen Lauf. Die Boulevard-Komödie beginnt. "Die Tür öffnet sich, der Gast betritt das Zimmer. Und Lynn? Ist verschwunden. Ihr Herz gibt endlich Lebenszeichen. Sie liegt unterm Bett. Es ist ein Doppelbett. Die Pyjamajacke hat sie noch an. Lynn legt den Kopf an die Seite. Sie kann die Beine des Manns sehen, der ins Bad geht. Sie hört den Wasserstrahl der Dusche. Das ist ihre Chance. Sie verlässt das Versteck. Sie schaut zur Badezimmertür, nichts, Lynn faltet die Pyjamajacke zusammen und stopft sie unter die Bettdecke. Und jetzt?"

    Man merkt, der Autor schreibt eine zügige Prosa. Seine Sätze sind kurz, gelegentlich atemlos, ganz der geschilderten Situationen angemessen. Er weiß, wie man es schafft, die Spannung auf den Leser zu übertragen. Ja, er macht ihn, dem die geschilderten Schnüffeleien anfangs eher peinlich anmuten, nicht nur zum Zeugen, sondern zum Kompagnon. Wie's weiter geht nach dem Zudrehen des Wasserhahns in der Brause? Hier nur so viel: Das Zimmermädchen bleibt bis zum nächstem Morgen unterm Bett.

    Dieses erste Mal erfüllt Lynn dermaßen, dass sie sich fortan jede Dienstagnacht in Zimmer 304 an diesem gemeinhin als wenig bukolisch erachteten Ort aufhält und, die Hände immer fest am Lattenrost, Zeugin alltäglichster Verrichtungen stinknormaler Hotelgäste wird. Aus dem Experiment wird ein Ritual. Sie braucht dieses Ritual wie den wöchentlichen Besuch beim Therapeuten, wie das wöchentliche Anrufen der Mutter, von der wir annehmen dürfen, dass sie einen gehörigen Anteil an den Gründen für die Persönlichkeitsstörung der Tochter hat.

    Bis eines Tages ein Callgirl oben auf der Matratze erscheint und den Mann unter Einsatz rüdester Liebestechniken rackern lässt. Was ist dieses Callgirl für eine? Was würde die Frau daheim zu den Eskapaden ihres Ehemannes im Hotel sagen? - Lynn recherchiert, geht auf die Suche, stellt beiden Frauen erfolgreich nach, lernt sie kennen, die Handlung spitzt sich zu. Man muss kein psychologisch versierter Leser sein, um den Gründen für die Tragik und Traurigkeit der Verstiegenheiten einer Frau, die aus der Welt gefallen ist, auf die Spur zu kommen. Das einzige, was man dieser - auch und gerade in den Dialogen - lakonisch und luzide verfassten Prosa ankreiden kann, ist, dass sie ihre Hauptfigur zwar initiativ werden lässt, am Ende aber doch keinerlei Entwicklung zugesteht.

    Eine gute Lesestunde später ist man mit der Lektüre dieser dramaturgisch sattelfest konstruierten Erzählung zu Ende, ohne indes das gelesen zu haben, was die Gattungsbezeichnung des Textes verspricht: einen Roman. Sei's drum. "Das Zimmermädchen" ist nicht der große Wurf wie Markus Orths bisher bester Roman "Lehrerzimmer (2003), vergessen wird man die abenteuerliche, urkomische und todtraurige Geschichte aber nicht. Man wird an das Zimmermädchen denken, bei der nächsten Buchung eines Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels. Auch wenn die Enttäuschung groß ist, dass man wieder nicht ein Bett des Formats vorfindet, unter das sich eine Kollegin Lynns hätte verstecken können. Heutige Hotelbetten stehen einfach auf zu niedrigen Füßen.

    Markus Orths: Das Zimmermädchen. Roman. Schöffling & Co. Frankfurt am Main, 138. S.,