Mittwoch, 24. April 2024

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Eine Soziologie der Arbeiterschaft in der DDR

Die Leistungen einer heldenhaften Arbeiterklasse waren ein fester Baustein im Weltbild der Führungsriege der DDR. Stalin selbst hatte die Deutsche Demokratische Republik zur Staatsgründung 1949 zum "ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat" erklärt. Aber war sie das jemals - ein Arbeiterstaat? Der Historiker Christoph Kleßmann geht dieser Frage nach. Günter Beyer hat das Buch gelesen und mit dem Autor gesprochen.

21.01.2008
    "Es war nicht die Erfüllung dieses Anspruchs, ein Arbeiterstaat zu sein, sondern es war eine Diktatur der SED, in der die Arbeiter angeblich die führende Klasse waren, in der sie auch von dieser Rolle Gebrauch gemacht haben, die aber nicht de facto ein wirklicher Arbeiterstaat gewesen ist."

    Ausführlich behandelt Christoph Kleßmann die wirtschaftlichen und sozialen Ausgangsbedingungen für den "Sozialismus in einem halben Land". Er erinnert daran, dass die Ostzone im Vergleich zum ehemaligen Deutschen Reich wie auch zu den drei Westzonen ein industriell hoch entwickeltes Gebiet war, benachteiligt allerdings durch Rohstoff- und Energieknappheit. Existenz bedrohend waren anfangs die sowjetischen Demontagen. Vielerorts bildeten sich so genannte "antifaschistische Aktionsausschüsse". Sie nahmen ehemalige NS-Funktionäre fest, kümmerten sich um die Versorgung der hungernden Bevölkerung und verteilten Wohnungen. Rasch jedoch gerieten diese spontanen Antifa-Komitees in Gegensatz zur neuen Obrigkeit. Insbesondere Walter Ulbricht zeigte eine "tief verwurzelte Abneigung gegen jede Eigeninitiative an der Basis". Von einer "Rummurkserei mit der Antifa" wollte er nichts wissen. Radikalen Forderungen nach einem Rätesystem, wie sie etwa im Zwickauer Bergbaurevier zu hören waren, wurde der Riegel vorgeschoben. Mit Macht drängten die Kommunisten darauf, ihre KPD mit der SPD zu einer Einheitspartei zu verschmelzen, dahinter stand allerdings die Absicht, der sozialdemokratischen Programmatik den Boden zu entziehen.

    "Die SED hat die Sozialdemokraten verschluckt, aber sie hat sie nie richtig verdaut, und das gilt eigentlich bis in die 70er Jahre, die Polemik gegen "Sozialdemokratismus", das ist ein ideologischer Fachterminus, dieser Kampf gegen den Sozialdemokratismus ist ein Indikator dafür, wie stark diese alte Tradition gewesen ist und wie große Schwierigkeiten man hatte, sich damit auseinanderzusetzen."

    Der Kampf gegen diese unerwünschten Traditionen markiert Kleßmann zufolge eine Konstante der politischen Entwicklung der DDR. Ein zweiter Fixpunkt ist die ungebrochene, geradezu magnetische Anziehungskraft Westdeutschlands als "Referenzgesellschaft", mit der die Menschen in der DDR ihre Lage stets verglichen. Ein dritter Eckpunkt ist das sowjetische Modell der Oktoberrevolution.

    Allerdings, betont Kleßmann, war die DDR nie eine 1:1-Kopie der UdSSR. Seine These vom Dreiklang "deutsche Traditionen, sowjetisches Modell und westdeutsches Magnetfeld" kann Kleßmann für die gesamte Ära Ulbricht überzeugend belegen. Nach der Revolte des 17. Juni 1953 steuert die SED ihren so genannten "Neuen Kurs", verbessert die Versorgung der Bevölkerung und probiert in der Tauwetterperiode nach Stalins Tod eine zaghafte Eigenentwicklung.

    Der Bau der Mauer 1961 ist das Eingeständnis, dass die DDR die Strahlkraft des westdeutschen Magneten nicht ausschalten kann. Über weite Strecken liest sich Kleßmanns Studie als materialreiche, mit vielen Zahlen, Statistiken und Tabellen argumentierende Soziologie der Arbeiterschaft in der DDR bis zum Ende der Ära Ulbricht 1971. Dem Autor steht ein überreiches Archivmaterial, nicht zuletzt aus erst kürzlich zugänglichen Quellen, zur Verfügung. Der Detailreichtum der Informationen ist bisweilen kaum zu verdauen. Man erfährt pfenniggenau, wie viel ein Arbeiter im Maschinenbau verdiente und wie wenig eine Textilarbeiterin. Man liest, dass 1966 exakt 67,8 Prozent aller Haushalte auf einen Trabi warteten. Dass in Arbeiterkreisen gern Bruno Apitz´ Roman "Nackt unter Wölfen" gelesen wurde und dass um 22 Uhr bereits 70 Prozent der Arbeiterklasse im Bett lagen. Blass bleibt leider der biographische Hintergrund der DDR-Nomenklatura, die, wie der gelernte Möbeltischler Walter Ulbricht, häufig selber aus Arbeiterfamilien stammte. Wie aus Arbeitern im "Arbeiterstaat" verbohrte und machthungrige Despoten in Wandlitz werden, gehört schon zum Thema.

    "Im Auftrage der Regierung der DDR vollziehe ich die feierliche Namensgebung des Eisenhüttenkombinates in Eisenhüttenkombinat Jossif Wissarionowitsch Stalin, und die erste sozialistische Stadt der Deutschen Demokratischen Republik erhält den Namen "Stalinstadt."

    Ein Exkurs behandelt das Vorzeigeprojekt "Stalinstadt", heute Eisenhüttenstadt. In der "ersten sozialistischen Stadt Deutschlands" führte die SED beispielhaft vor, mit welchen Wohltaten die "Arbeiterklasse" nach dem Motto "Bei uns ist schon morgen!" künftig werde rechnen können: Gut ausgestattete Wohnungen mit Parkettböden und Fernwärme, eine überdurchschnittliche Versorgung mit Geschäften, Kulturangebote. Wer fleißig arbeitete und nicht aufmuckte, hatte durchaus Vorteile. Christoph Kleßmann behauptet, zwischen der Partei als selbsternannter Avantgarde und der "Arbeiterklasse" habe spätestens nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 so etwas wie ein "geheimer Sozialkontrakt" bestanden.

    "Hier ist auf beiden Seiten so etwas wie ein Schock und ein Lernprozess in Gang gesetzt worden, nämlich die SED hat zum ersten Mal erlebt, wie die Klasse, auf die sie sich beruft, gegen die Führung revoltiert. Andererseits haben die Arbeiter gesehen, dass sie mit einem offenen Aufstand für ihre Interessen oder auch für politische Ziele nicht wirklich weiterkommen."

    Eine ritualisierte, ständige Kommunikation zwischen der "Arbeiterklasse" und der Partei charakterisiert die politische Kultur der DDR. Den Rahmen des Dialogs, der nicht gesprengt werden durfte, setze selbstverständlich die Partei. Die Arbeitsbrigaden, die eigentlichen "Primärgruppen" der extrem auf den Betrieb bezogenen DDR-Gesellschaft, waren durchaus in der Lage, gegenüber Funktionären, Werksleitung oder Betriebsgewerkschaftsleitung Forderungen durchzusetzen. Das Funktionieren des "geheimen Sozialkontrakts" sowie diverse Rückzugsmöglichkeiten der "Nischengesellschaft" DDR erklärt für Kleßmann auch die "relative Stabilität und lange Dauer der SED-Diktatur". Er konstatiert eine "mißmutige Loyalität" der Arbeiter zu "ihrem" Staat als vorherrschende Befindlichkeit. Die Stilisierung der "Arbeiterklasse" als führende Klasse war nur möglich durch ständige "Theatralisierung des Alltags". Die Propaganda überschlug sich, stets neue Produktionsrekorde und kühne Selbstverpflichtungen zu vermelden. Über die "verdienten Aktivisten" ging ein regelrechter Regen von Medaillen, Orden und Auszeichnungen nieder; übrigens waren bis 1956 unter den 295 "Helden der Arbeit" nur 21 Frauen.

    "Die SED hat eine Industriepolitik betrieben, und das hing dann auch wieder mit der Ideologie zusammen, die sehr konsequent auf die Entwicklung der klassischen Industriearbeiterschaft sich ausgerichtet hat und die auf diese Weise auch langfristig gestärkt wurde."

    Dieser Proletkult um den Facharbeiter manövrierte die Industriepolitik der DDR in eine gefährliche Sackgasse. Denn die solcherart gehätschelte Klasse entwickelte gehöriges Selbstbewusstsein und Besitzstandsdenken. Die Partei hatte im Prinzip immer, aber auch die Facharbeiter hatten meistens recht. Ohne sie lief nichts. So blieben nötige Modernisierungen und der viel beschworene "wissenschaftlich-technische Fortschritt" oft auf der Strecke. Insgesamt: Christoph Kleßmann hat ein profundes, analytisch überzeugendes, in seiner empirischen Opulenz aber nicht gerade leicht konsumierbares Buch über die Arbeiter im "ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat" vorgelegt.

    Keine leichte Kost und dennoch eine Empfehlung von Günter Beyer für Christoph Kleßmann: Arbeiter im "Arbeiterstaat" DDR. Deutsche Traditionen, sowjetisches Modell, westdeutsches Magnetfeld (1945 bis 1971), erschienen ist das Buch im Dietz-Verlag, 890 Seiten kosten 68 Euro.