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Eine Stadt im Widerspruch

Polens jüngste Stadt feiert in diesem Jahr ihren 60. Geburtstag. Auf eine große Party allerdings wird von Staats wegen verzichtet. Nowa Huta - heute ein Stadtteil am Ostrand von Krakau, entzweit seit jeher die polnische Gesellschaft. Vor 60 Jahren als sozialistische Modellstadt nebst Hüttenwerk aus dem Boden gestampft, symbolisierte sie in den Anfangsjahren den industriellen Aufschwung der jungen Volksrepublik Polen. Im Laufe der Jahre aber wuchs ausgerechnet hier der Widerstand gegen das sozialistische System.

Von Wojtek Mroz und Ernst-Ludwig von Aster | 30.10.2009
    Mit der Zeitung in der Hand eilt Witold Ruszalski über den großen Platz, zwischen fünfstöckigen Gebäuden , vorbei an großen Blumenkübeln. Der Mittfünfziger kommt von der Frühschicht. Ist auf dem Weg nach Hause.

    "Hier bei uns im Zentrum von Nowa Huta gibt es keine Straßen", sagt Ruszalski und lächelt: "Hier gibt es nur Siedlungen". Die sind ordentlich alphabetisch durchbuchstabiert: A, B, C, D.

    "Das alles hier wurde während des Kalten Krieges gebaut und darum gibt es hier auch Bunker. Gucken sie doch mal, wie diese Siedlungen gebaut sind: Man schließt die Tore. Und dann ist es eine Festung."

    Jede Siedlung eine Festung. Jeder Wohnblock ein Verteidigungsriegel. Mit Schutz-Bunker. Der 54-jährige Ruszalski ist hier aufgewachsen. Vier- bis fünfstöckige Häuser, die Fassaden verziert, umrahmen die riesigen Innenhöfe. Die sind streng symmetrisch angeordnet. Entstanden vor 60 Jahren. Gebaut nach einem Masterplan: Ein Hüttenwerk und eine komplette Stadt wurden damals aus dem Boden gestampft. Unweit von Krakau:

    "Als man begann, Nowa Huta zu bauen, da kamen Leute aus ganz Polen. Auch aus Lemberg, aus Vilnius. Dem ehemaligen Ostpolen. Alles hat sich hier gemischt. Meine Eltern kommen aus dem Gebirge in der Nähe von Kielce."

    Nowa Huta - das ist ein bis heute einmaliges Bauprojekt. Eine neue Stadt für mehr als 100.000 Einwohner, ein Hüttenwerk als Arbeitgeber. Stein und Stahl - für das neue, das sozialistische Polen. Das war der Plan 1949. Josef Stalin selbst segnete das Projekt ab,ließ die Finanzmittel für den Bau bereitstellen. So sollte der sozialistische Satellitenstaat Polen an den großen Bruder in Moskau gebunden werden:

    "Als mein Vater kam, wurde hier noch gebaut. Gleich, als er kam, hat er einen Job im Hüttenwerk bekommen. Damals standen noch viele Wohnungen leer. Er konnte sich eine aussuchen: drei Zimmer, zwei Zimmer oder nur ein Zimmer."

    Unvergleichliche Bedingungen im damaligen Polen. Freie Wohnungswahl für Arbeiter. Großzügige Gehälter. Das alles war Teil eines groß angelegten gesellschaftlichen Experiments. Denn in der neuen Stadt sollte der neue Mensch entstehen. Der sozialistische Arbeiter:

    "In Nowa Huta sollte keine einzige Kirche stehen. Es sollte eine kommunistische Stadt sein. Aber die Menschen haben für eine Kirche gekämpft. Und sie bekommen. Die Leute hier haben nie aufgegeben. Die Machthaber wollte eine kommunistische Stadt ohne Gott errichten. Aber sie haben es nicht geschafft."

    Ruszalski grinst. Er ist hier geboren. Vor 54 Jahren. Wohnt immer noch in der Wohnung, die damals sein Vater bekam. Arbeitet heute im Hüttenwerk. Als Kind hat auf den großzügigen Alleen gespielt. Und in den großflächigen Hinterhöfen. Ein Paradies sagt er. Ein Paradies, in dem allerdings laufend gekämpft wurde. Als Ruszalski vier Jahre alt ist, kommt es erstmals zu schweren Straßenschlachten zwischen Miliz und Arbeitern, als die Staatsmacht ein großes Kreuz, an dem sich die Gläubigen regelmäßig versammeln, niederreißen will. Als Ruszalski 23 Jahre ist, 1979, versuchen Arbeiter die riesige Lenin-Statue, die im Zentrum steht, in die Luft zu sprengen. Zwei Jahre später, 1981, wird in Polen das Kriegsrecht verhängt.

    "Damals haben im Hüttenwerk 40.000 Leute gearbeitet. Wenn wir noch die Firmen drum herum dazu rechnen, dann kann man von 60.000 Arbeitern sprechen. Das war ein riesiges Unternehmen.. Alle reden immer über Danzig, Walesa und so weiter. Aber bei uns gingen die meisten Arbeiter auf die Straße. Hier kam es ununterbrochen zu Demonstrationen. In Nowa Huta gab es laufend Straßenschlachten zwischen Demonstranten und der Miliz."

    Die Siedlungen von Nowa Huta wurden zu Festungen. Gegen die sozialistischen Machthaber. So etwas gab es in Polen nur hier, sagt Ruszalski. In Nowa Huta. Der neuen Stadt. Wo eigentlich der sozialistische Mensch entstehen sollte, formierte sich hinter den Fassaden der Reißbrett-Stadt der Widerstand.