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Eine Stadt wie ein Flugzeug

Mitten im Hinterland des gewaltigen Flächenstaats Brasilien wurde vor 45 Jahren die Stadt Brasilia gegründet. Die Gründung hatte symbolischen Charakter: In der damaligen Euphorie wollten die Politiker der Welt demonstrieren, welch großartige Zukunft der ehemaligen portugiesischen Kolonie vorbehalten sei – weshalb sie den Grundriss der Stadt in Form eines Flugzeugs anlegen ließen.

Von Kersten Knipp | 21.04.2005
    "Fortschritt von 50 Jahren in fünf". Es war ein großes Motto, das der brasilianische Präsident Juscelino Kubitschek kurz nach seiner Wahl im Jahr 1955 für die Zukunft Brasiliens ausgegeben hatte. Mittels forcierter Industrialisierung sollte das Land einen wirtschaftlichen Quantensprung tun, der eine symbolische Entsprechung im Bau der neuen Hauptstadt Brasília mitten im brasilianischen Niemandsland finden sollte. Beauftragt mit dem Projekt wurden der Architekt Oscar Niemeyer und der Stadtplaner Lucio Costa. Der Schwung jener Jahre ist in Niemeyers Ausführungen auch Jahrzehnte später noch zu spüren.

    " Eine neue Stadt errichten bedeutet nicht, hundert oder zweihundert Gebäude hinzustellen. Er heißt, Straßen, Krankenhäuser oder Universitäten zu bauen. Wir wollten beweisen, dass wir so etwas können."

    Der Welt zu zeigen, was Brasilien kann – auch darum ging es. Brasília, das war der letzte und zugleich monumentalste Versuch, sich von der Vorherrschaft Europas auch kulturell zu emanzipieren, jenem Kontinent, der das Geschick der ehemaligen portugiesischen Kolonie über Jahrhunderte bestimmt hatte. Schon 1822, unmittelbar nach der brasilianischen Unabhängigkeit, dachte man aus Prestigegründen erstmals daran, den bisherige Regierungssitz Rio de Janeiro durch eine im zentralen Hinterland zu errichtende Hauptstadt zu ersetzen– ein Ansinnen, das 1891 sogar in die erste republikanische Verfassung des Landes aufgenommen wurde.

    Die 1000 Kilometer von der Küste entfernte Hochebene war ein kahles, unbewohntes Gebiet, dessen immense Leere der Journalist Peter von Zahn in seiner Reportage aus dem Jahr 1958 in charmanter Kürze beschrieb.

    Brasília: eine Stadt, entstanden aus dem Nichts. Zu Baubeginn gab es kaum Verbindungen zur Außenwelt, Güter und Menschen wurden in den ersten Monaten mit dem Flugzeug eingeflogen. Dann aber kam der erste Durchbruch.

    "Seit ein paar Wochen ist jedoch die Eisenbahn nach Brasília vorgedrungen, das grüne Buschland gehört nicht mehr nur den Termiten und dem Juca-Vogel, es ist hie und da aufgerissen und zeigt große rote Schürfwunden. Scheinbar beziehungslos und in meilenweiten Abständen erheben sich Stahlgerüste über den Horizont, Kräne recken ihre dünnen Hälse, achtbahnige Autobahnen entstehen, aber sie kommen aus dem Nichts und enden abrupt an einem Bach, in dem eine Negerin die Wäsche auf dem Stein schlägt."

    Den Transportmitteln der allerersten Monate setzten Niemeyer und Costa ein unvergängliches Denkmal: Brasília hat die Form eines gewaltigen Flugzeugs. Über eine sechs Kilometer lange Trasse erstreckt sich der Rumpf, an dem die vornehmsten Institutionen des Landes: das Parlament, der Gerichtshof, die Ministerien konzentriert sind. An den Flügeln die Wohnhäuser, die sogenannten superquadras, quadratische, sieben Stock hohe Wohnblocks mit Schulen, Restaurants und Geschäften. Das Zentrum ist in futuristisch anmutender Architektur gestaltet, in nüchternen, streng geometrischen Formen, allesamt in gewaltigen Dimensionen, die die Macht oder besser wohl: Machtträume des damaligen Brasiliens bezeugen sollten. Oscar Niemeyer:

    "Wer nach Brasília fährt, dem sage ich immer: Du kannst die Gebäude mögen oder nicht, aber du wirst nie sagen können, dass du jemals etwas Vergleichbares gesehen hast. Es gibt keine Gebäude wie diese. Brasília war ein Abenteuer. Sehen zu können, wie eine Stadt in nur vier Jahren entsteht."

    Doch das Mammutprojekt überfordert das Land. Inflation und chronisch knappe Staatskassen ließen viele Pläne unvollendet, vor allem den, denen, die in den folgenden Jahren in die neue Hauptstadt zogen, adäquate Unterkünfte zu bieten. So zieht sich heute ein gewaltiger Gürtel von Satellitenstädten und Elendssiedlungen um die Stadt. Für Oscar Niemeyer, den in sozialen Belangen engagierten Architekten, ist Brasília längst ein Projekt von gestern:


    "Aber Brasilia ist nicht die Stadt der Zukunft. Brasília ist kein Modell für morgen. Brasília entstand in einem kapitalistischen Regime mit all seinen Ungerechtigkeiten und Widersprüchen. Wenn meine Arbeit gut war, dann wird sie auch morgen Bestand haben. Aber in einem kapitalistischen Land an sozialistische Architektur zu denken, ist lächerlich."

    1987 wurde die Stadt in die UNESCO-Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Und ihre monumentale Wirklichkeit erinnert bis heute an den Traum einer großen Zukunft, die nur den kleinen Schönheitsfehler hat, sich von der Gegenwart nicht auf alle Zeiten einholen zu lassen.