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"Eine Sternstunde der deutschen Geschichte"

Am Sonntag feiern die Deutschen den 20. Jahrestag der Wiedervereinigung. Vieles habe sich zum Positiven gewandelt, dennoch gebe es noch jede Menge zu tun, so der ehemalige Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, Bernhard Vogel.

Bernhard Vogel im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 30.09.2010
    Dirk-Oliver Heckmann: Und telefonisch zugeschaltet ist uns jetzt Bernhard Vogel. Er war von 1976 bis 1988 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und von 1992 bis 2003 des Freistaats Thüringen, nun Ehrenvorsitzender der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung. Schönen guten Tag, Herr Vogel!

    Bernhard Vogel: Guten Tag, Herr Heckmann!

    Heckmann: Herr Vogel, auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung sind wir noch wie vor weit von gleichwertigen Lebensverhältnissen entfernt. Hätten Sie das gedacht, dass das so lange dauern würde, als die DDR der Bundesrepublik beitrat?

    Vogel: In der Tat, wir haben ja ein großes Wagnis eingegangen mit der Wiedervereinigung, und in der Tat, ich hätte mir gewünscht, dass manches schneller ging. Nur mache ich darauf aufmerksam, es gibt Felder, wo die Einheit noch nicht erreicht ist, aber es gibt sehr viel mehr Felder, wo die Einheit selbstverständlich inzwischen erreicht ist. Denken Sie beispielsweise, dass die Lebenserwartung im Osten wesentlich kürzer war als im Westen und sich jetzt gleich darstellt. Denken Sie an das, was an der Infrastruktur, was an der Luft, was an dem Wasser, was im Umweltschutz, was in den Städten geschehen ist – da muss man ja aufpassen, dass westdeutsche Besucher nicht neidisch werden und sagen: So schön ist es aber bei uns nicht. Es gibt auch Felder, die noch Sorgen machen, aber auch hier bitte ich um Differenzierung. Die Arbeitslosigkeit im Osten ist höher wie im Westen, aber die Arbeitslosigkeit in Thüringen ist nicht mehr höher wie im Westen.

    Heckmann: Das heißt, aus Ihrer Sicht wird zu viel gejammert?

    Vogel: Es wird zu einseitig zurückgeschaut. Die einen kritisieren, die anderen loben. Ich bin dafür zu sagen, das war eine Sternstunde der deutschen Geschichte. Die deutsche Einheit ist von der Mehrheit der Westdeutschen und ganz besonders der Ostdeutschen stets als Glück empfunden worden, wir sind aber noch nicht am Ende, sondern es bleibt noch eine ganze Menge zu tun.

    Heckmann: Und zur Wahrheit gehört auch, dass in weiten Teilen des Ostens viele Menschen keine Perspektive mehr sehen, dass sie nach wie vor abwandern.

    Vogel: Auch da wäre ich dafür, dass wir mal langsam aufhören, von dem Osten und dem Westen zu sprechen …

    Heckmann: In Teilen des Ostens habe ich gesagt.

    Vogel: Ja, da bin ich Ihnen auch sehr dankbar, denn die gehen ja nicht in den Westen, sondern sie gehen nach Bayern und Baden-Württemberg, genauso wie viele aus Norddeutschland nach Bayern und Baden-Württemberg gehen. Und im Übrigen darf man einmal hinzufügen: 2,7 Millionen sind aus den östlichen Ländern nach dem Westen gewandert, aber 1,6 Millionen ist aus dem Westen nach dem Osten gewandert. Die Bilanz ist nicht ausgeglichen, aber es ist keineswegs so, dass das nur eine Einbahnstraße sei.

    Heckmann: Glauben Sie, dass diejenigen, die abwandern, die Wiedervereinigung auch als Sternstunde der Deutschen sehen?

    Vogel: Zum großen Teil ja, denn es ist etwas anderes, ob ich, um einen guten Arbeitsplatz zu finden, mich in einem freien Land, in einem einigen und freien Land, das keine Grenze mehr trennt, weg bewege oder ob ich unter Lebensgefahr zu flüchten versuchen muss.

    Heckmann: Können Sie sich vorstellen, dass sich einige Leute, die das betrifft, die abgewandert sind, diese Argumentation als zynisch ansehen?

    Vogel: Nein, das glaube ich nicht, sondern man sieht es ja ständig bestätigt. Es ist doch klar: Besser in Franken Arbeit haben als in Thüringen arbeitslos sein. Das ist übrigens eine Entwicklung, die es in Deutschland immer gegeben hat. Nach dem Krieg gab es eine Zuwanderungsbewegung nach Nordrhein-Westfalen, und kein Mensch wäre nach Südwürttemberg-Hohenzollern damals gewandert oder umgesiedelt. Nein, diese Wanderungsbewegungen müssen uns besorgen, aber sie schränken die Freude über die erreichte Einheit und die erreichte Freiheit nicht ein.

    Heckmann: 64 Prozent, Herr Vogel, der Ostdeutschen sehen sich als Deutsche zweiter Klasse nach jüngsten Umfragen. Kann man das vom Tisch wischen?

    Vogel: Das muss man erst einmal auf seinen Wahrheitsgehalt prüfen, was darunter zu verstehen ist. Und im Übrigen, Umfragen überbieten sich. Ich habe gerade eine Umfrage gelesen: Mehr als 90 Prozent aller Jugendlichen, aller Menschen bis 25 oder 30 Jahre, fühlen sich als Deutsche und weder als Ostdeutsche noch als Westdeutsche.

    Heckmann: Hm, aber es ist dann auch so, dass der Ministerpräsident von Brandenburg, Matthias Platzeck, beispielsweise sagt: Vielen Ostdeutschen wurde das Gefühl vermittelt, ihr ganzes vorheriges Leben sei sinnlos gewesen, sie müssten alles wegwerfen, es sei alles Stasi gewesen und alles ideologieverseucht.

    Vogel: Wer solches vermittelt hat, dem gehört in der Tat entschieden widersprochen und …

    Heckmann: Und ist da was dran, ist dieses Gefühl vermittelt worden vom Westen aus?

    Vogel: Ja, es gab schon Leute – es gab ja auch Leute im Westen, die sich nicht so furchtbar für den Osten interessiert haben, die gemeint haben, jetzt sind wir ein bisschen größer, jetzt sind wir ein bisschen mehr, aber im Übrigen muss sich im Osten alles ändern, im Westen nichts. Diese Auffassung war falsch, und es gilt immer zu unterscheiden zwischen dem Unrechtsstaat, dem SED-Unrechtsstaat auf der einen Seite und dem Leben der Menschen auf der anderen Seite, die es schwerer hatten als wir im Westen und deren Lebensleistung nicht verleugnet, verkleinert oder vergessen werden darf.

    Heckmann: Sie haben den Begriff Unrechtsstaat gerade eben genannt, der ein oder andere, darunter fallen Gesine Schwan, aber auch Lothar de Maizière, empfehlen, diesen Begriff nicht zu verwenden, da die DDR und das Leben darin eben auch andere Dimensionen haben. Wird die DDR und das Leben dort vom Westen aus zu eindimensional wahrgenommen?

    Vogel: Also Respekt vor anderer Meinung, aber meine Meinung ist ganz eindeutig: Ein Staat, der keine freien Wahlen kennt, keine Pressefreiheit kennt, Kanonen auffahren muss, nicht um Eindringlinge abzuwehren an der Grenze, sondern um eigene Bürger an der Flucht zu hindern, ist für mich ein Unrechtsstaat. Aber in der Tat, Unrechtsstaat ist das eine, und das Leben von Millionen von Menschen, die damit fertig werden mussten und zum großen Teil vorbildlich fertig geworden sind, ist das andere. Beides muss man sagen, nicht das eine oder das andere.

    Heckmann: Ganz kurz zum Abschluss vielleicht noch: In zehn Jahren, Herr Vogel, werden wir da noch über ungleiche Lebensverhältnisse reden?

    Vogel: Wir werden auch dann darüber reden, dass die Lebensverhältnisse in Bayern anders sind wie in Niedersachsen, in Sachsen anders sind wie in Mecklenburg-Vorpommern, und ich hoffe, dass möglichst viele ostdeutsche Länder in zehn Jahren sich dort eingeordnet haben, wo sie ohne deutsche Teilung ganz selbstverständlich in der Rangfolge der deutschen Länder ständen.

    Heckmann: Über den Stand der deutschen Einheit haben wir gesprochen mit Bernhard Vogel, dem ehemaligen Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz und Thüringen, nun Ehrenvorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Herr Vogel, danke Ihnen für das Gespräch!

    Vogel: Ich danke Ihnen, Herr Heckmann!