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Eine verschwiegene Tragödie

Yasar Kemal beschreibt in seinem Roman "Die Hähne des Morgenrots" eine fiktive Insel in der Ägäis. Und doch erinnern Schicksal und Geschichte ihrer Bewohner an die gemeinsame Vergangenheit von Griechenland und der Türkei. Für Kemal ist die Geschichte von Umsiedelung, Zwangsvertreibung und Krieg eine der größten Tragödien.

Von Simone Hamm | 01.12.2008
    Die Ameiseninsel ist fruchtbar. Die Pfirsiche duften, und wer nur eine einzige Frucht isst, dessen Körper duftet ebenso. Die Feigen sind von Honig tropfende Himmelsfrüchte. Auf keiner Insel gibt es so prächtige Granatäpfel: rund, rosa, mit Beeren - so groß wie Kamelzähne. Nirgendwo gibt es schönere Weinberge mit besseren Weinstöcken. Es scheint, als sei die Ameiseninsel ein Paradies.

    Die Menschen, die hier leben, haben Entsetzliches erlebt: einen Krieg, in dem die meisten jungen Soldaten in den Bergen des Atlasgebirges erfroren sind, bevor die erste Schlacht überhaupt begann. Einen Krieg, in dem Männer gefoltert und Frauen bestialisch vergewaltigt und verstümmelt worden sind.

    Yasar Kemal schildert diesen Gegensatz von der äußerer Schönheit der Landschaft und der inneren Zerrissenheit der Inselbewohner im dritten Band seines Zyklus über die Ameiseninsel: Die Hähne des Morgenrots.

    Nordwind ist ein junger Mann, der als einziger aus seinem Regiment den Krieg überlebt hat, alle anderen sind erfroren oder erschossen worden. Er gilt als Deserteur, hat seinen Namen geändert und ist auf die Ameiseninsel geflohen. Er verliebt sich in Zehra. Und ist doch unfähig, sie zu lieben.

    Seitdem Nordwind die Brüste von Zehra gesehen hatte, gingen ihm die zum Himmel aufsteigenden Schreie der Frauen nicht aus den Ohren, die erdolcht und mit abgeschnittenen Brüsten im Wasser des Euphrats treibenden Leichen nicht aus den Augen. Das sandige Ufer war übersät mit blutigen, zuckenden Brüsten. Vom Himmel kugelrund herabrauschende Adler schnappten eine um die andere und flogen mit wohlgefüllten Krallen zu den fernen blauen Bergen. Über den Brüsten verkeilten sich die Greife, und der Sieger brachte seine bluttropfenden Beute in die fernen Berge. Nordwind ist ratlos in seiner Qual, seit er die Brüste von Zehra gesehen hat, verfolgen ihn diese Bilder.

    Drastisch und eindringlich zugleich schildert Yasar die Erinnerungen Nordwinds, die Erinnerungen anderer Männer an einen entsetzlichen Krieg. Sein Roman ist ein Roman über den Krieg und das, was der Krieg aus den Menschen macht. Und ein Roman über die Folgen des Krieges. Über den Hass und das Misstrauen, das bleibt und über lebensfremde Entscheidungen, die Offiziere im Krieg und Politiker nach Kriegsende fällen.

    Die Bewohner der Ameiseninsel sind nicht dort geboren worden. Die Ameiseninsel, eine fiktive Insel in der türkischen Ägäis war jahrtausendelang Heimat von Griechen. Griechen kultivierten die Landschaften, bauten Früchte an, waren Bauern, Imker und Ziegenhüter. Dann wurden sie aus der Türkei, von der Insel vertreiben. Türken, die aus Griechenland zwangsweise umgesiedelt worden waren, kamen auf die Insel.

    Mag die Insel auch fiktiv sein, die Geschichte von Umsiedelung, Zwangsvertreibung und Krieg ist es nicht. Nach dem ersten Weltkrieg wurden über zwei Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Griechen, deren Familien seit Jahrhunderten in der Türkei lebten, mussten ihre Städte und Dörfer verlassen. Und Türken wurden aus Griechenland zwangsumgesiedelt. Für Yasar Kemal ist dies eine der größten Tragödien der Geschichte. Und: Es ist eine verschwiegene Tragödie. Ersonnen wurde die Umsiedlungsidee 1923 von europäischen Diplomaten am grünen Tisch in Lausanne.

    Schlimm traf es die Griechen, die die Türkei verlassen mussten. Sie waren Handwerker, Ärzte, Ingenieure, Händler. Schlimmer noch traf es die zurückgebliebenen Türken. Der Auszug der vielen Gebildeten warf die türkischen Dörfer um Jahrzehnte zurück.

    Yasar Kemal stammt selbst aus einer kurdischen Familie, die aus dem Osten der Türkei vertrieben wurde. Diese Vertreibung, so sagt er, sei Teil seines Lebens und Teil seines Werkes, ein immer wiederkehrendes Motiv.

    In seinem Dorf habe es aus Griechenland vertriebene türkische Familien gegeben, die ihre Reisetruhen niemals geöffnet haben - sie dachten, jederzeit werde der Spuk beendet und sie könnten wieder nach Hause.

    Und es gab alte Männer, die vom Krieg erzählten, davon, wie sie im eisigen Gebirge verheizt wurde, Männer die nie über ihre Kriegserfahrungen hinweggekommen sind.

    Yaser Kemal wollte diese doppelte Tragödie öffentlich machen.

    Zheras Vater, der Agaefendi träumt von seiner Heimat Kreta. Seine Töchter dürfen ihre Wäschetruhen nicht öffnen. Das sollen sie erst tun, wenn sie zurück nach Kreta gehen.

    Der Agaefendi trank wieder zuviel und wurde so mitteilsam, dass jeder ihm mit offenem Munde zuhörte. Kreta wurde in seinem Munde zur Sage der Sehnsucht und der Aegefendi zum Sagenerzähler aus alten Zeiten. Während er redete, verwandelte sich die Sage in eine Totenklage.

    Immer mehr Flüchtlinge kommen auf die Ameiseninsel. Sie wissen nicht, wie wertvoll Oliven sind, sie holzen die Bäume ab, um zu heizen. Wenn sie durch den Weinberg gehen, hinterlassen sie ein Feld der Verwüstung.

    Anfangs halfen die Menschen einander, jetzt zerstören sie die in Jahrhunderten gewachsenen, von den Griechen angelegten Olivenhaine und Weinberge. Sie wissen es nicht besser. Unablässig steuert der Roman auf die Katastrophe zu.

    Yasar Kemal hat einen politischen Roman geschrieben, der voll von prallem Leben ist. Kein Lehrstück, sondern ein orientalisch anmutender Roman. "Die Hähne des Morgenrotes" ist bildreich komponiert. Mächtig und ergreifend sind seine Bilder, üppig ist seine Sprache.

    In den Dialogen wird Umgangssprache gesprochen. Da geht es bisweilen recht deftig zu. Die genauen Beschreibungen der Natur, der inneren Gefühlswelten der Kemalschen Helden hingegen sind fein ziseliert. Von diesem Wechselspiel der Sprache lebt der Roman, ein großer, ein epischer, ein zärtlicher, ein wuchtiger, ein bisweilen auch trauriger Roman.

    Yasar Kemal: Die Hähne des Morgenrots.
    Aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff. 351 Seiten. Unionsverlag