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Eine Wegbereiterin des modernen Tanzes

Sie war ein Star der Belle Epoque: Mit ihrem Serpentinentanz hat Loïe Fuller das Paris der Jahrhundertwende verzaubert. Die amerikanische Tänzerin inspirierte Maler, Bildhauer und Dichter und gehörte selbst zur künstlerischen Avantgarde Europas.

Von Vanessa Loewel | 15.01.2012
    "Es ist merkwürdig, diese Amerikanerin, die hundertmal weniger hübsch ist als die wunderschöne Emilienne d’Alençon oder eine beliebige Ballerina am Nouveau Theatre, ist die Schöpferin dieses vollkommenen Tanzes: einzigartig und phantastisch. Sie ist diejenige, die als Königin dasteht, und ihr Geist und der Zauber ihrer Darbietung sind es, auf die ganz Paris zurückkommt."

    Ein etwas zwiespältiges Kritiker-Kompliment in der französischen Wochenzeitung "L’Illustration" vom 30. Januar 1896. Loïe Fuller war tatsächlich kein geborener Variété-Star. Die Verlegerin Sylvia Beach beschrieb sie als:

    "Dralles, ziemlich gewöhnliches Mädchen aus Chicago, ein Lehrerinnentyp mit Brille."

    Doch auf der Bühne verwandelte sie sich in eine "Fee der Elektrizität", in eine "Zauberin des Lichts". Bei ihren legendären Serpentinentänzen verschwand Loïe Fuller fast hinter dem Seidenstoff ihres glitzernden Kostüms, das sich in Wellen aufbauschte. Mit ihren Armen, die sie mit Bambusstäben verlängerte, schleuderte sie die Meter langen Stoffbahnen hoch in die Luft.

    "Hätten sie mein Gesicht am Ende des Tanzes gesehen, sie hätten sehen können, wie ich meine Zähne fest zusammenbiss und die Lippen zusammenpresste, und ich sagte zu mir: ‘Oh, werde ich je all dieses Stoff dort hinaufbekommen’?"

    Aber nichts war von der Anstrengung zu sehen. Loïe Fuller war eine Meisterin der Illusion. Mehrere Scheinwerfer beleuchteten die Bühne mit farbigem Licht und zauberten irisierende Effekte.

    "Hat das noch mit Tanz zu tun?" fragten sich die Kritiker, wenn Loïe Fuller als Naturgewalt über die Bühne wirbelte: Sie tanzte das Meer, die Wolken und das Feuer.

    Doch nicht nur, was den Tanz angeht, war sie eine Wegbereiterin der Moderne. Wie sie die Konventionen des Balletts und das Chichi des Can Cans überwand, so räumte sie die Kulissen von der Bühne und erschuf einen dunklen Illusionsraum. Mehr als 20 Assistenten bestrahlten die Tänzerin in einem komplexen Beleuchtungssystem, das sie selbst entwickelt hat. Loïe Fuller experimentierte mit elektrischen Scheinwerfern, farbigen Gelatine-Beschichtungen und sogar mit fluoreszierendem Radium, das ihre Freundin, die Physikerin Marie Curie gemeinsam mit ihrem Mann, entdeckt hatte.

    "Am Anfang war ich völlig ahnungslos, welche Wirkung eine Farbe auf die andere hat, und musste wie ein Maler lernen, welche Farben durch Verbindung gewannen und welche ruiniert wurden. Hinter dem Effekt steckt jahrelanges geduldiges Studium."

    1862 wird Loïe Fuller als Mary Louise Fuller geboren, in einem Dorf im US-Bundesstaat Illinois. Ob am 15. oder 22. Januar, darüber ist sich die Fachliteratur nicht einig. Sie tingelt schon als Teenager von Theater zu Theater und macht als Vaudeville-Darstellerin in den USA eine eher mittelmäßige Karriere. Loïe Fuller ist 30, als sie 1892 nach Paris kommt, und fast über Nacht zum Star wird. Ihr Serpentinentanz mit seinem psychedelischen Licht trifft den Nerv dieser Stadt, die in der Belle Epoque, mit der Elektrifizierung, zur "ville lumière", zur "Lichterstadt", geworden ist. Sie bleibt in Paris, das sie zur "divine Loïe Fuller", zur "göttlichen Loïe Fuller" macht.

    "Mit neuen Schwüngen spannt sie ihre Tücher auf, erschafft so sich selbst und ist so am Abend nichts als geflügelter Traum."

    beschrieb Georges Rodenbach sie in einem Gedicht. Die Tänzerin inspiriert eine ganze Generation: Die fließenden Bewegungen ihres Schmetterlingstanzes begeistern die Jugendstilkünstler, die darin ein wiederkehrendes Motiv gefunden haben, Henri Toulouse-Lautrec malt sie, Auguste Rodin ist mit ihr befreundet und verewigt ihre Hände in Marmor, Debussy komponiert für sie.

    Als sie 1928, mit 65 Jahren, an Brustkrebs stirbt, führt ihre Arbeits- und Lebensgefährtin Gab Sorère die Tanztruppe noch bis in die 50er-Jahre weiter. Heute ist Loïe Fuller fast vergessen. Zu flüchtig war ihre Kunst aus Licht und Bewegung. Geblieben sind die Bilder, Musikstücke und Statuen, die sie inspiriert hat – wie die Figur, die bis heute auf dem Kühler eines jeden Rolls Royce steht: "The Spirit of Ecstasy."