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Eine Welt am Ende

Als Alban Berg 1935 mit nur 50 Jahren tragisch starb, ließ er ein großes Werk unvollendet zurück: Die Oper Lulu. Jetzt wurde die von Eberhard Kloke vollendete Fassung in Kopenhagens Königlicher Oper erstmals szenisch aufgeführt - und vom Publikum bejubelt.

Von Wolf-Dieter Peter | 18.10.2010
    Das schmerzliche Liebesthema Lulus zu Dr. Schön gibt es weiterhin. Eberhard Kloke hat die vorhandenen "Lulu"-Skizzen nur so weit ausgestaltet, als Bergs Zielrichtung eindeutig war. Auf Lulus Weg über die Pariser Halbwelt zum tödlichen Ende in London blieben auch die schrillen Ensembles unter den Börsenraffkes und Sex-Erpressern, neu aber gibt es die Solovioline für Lulu, dann Violine und Klavier begleitet von einem eher klagend aufspielenden Akkordeon.
    Bergs von Wedekind übernommene Drehorgelmelodie klingt später nun treffend banal herein. Daneben stehen viele Sprechszenen, eine Parallele zum 1.Akt. Insgesamt zerfasert im 3.Akt parallel zum Zerfall des sozialen Miteinander auch die Musik, klingt gezielt trivialer, wie aus dem Song-, Brettl- und Schmierenmilieu adaptiert. Berg wird da als Zeitgenosse Kurt Weills ("Mahagonny") und Ernst Kreneks ("Johnny spielt auf") hörbar. Ist das allein schon spannend, so offeriert Klokes Fassung noch mehr: Alle ausgearbeiteten Entwürfe und Szenen ergeben oder erzwingen keinen linearen Handlungsverlauf. Jedes Produktionsteam kann und muss so eine eigene Musik- und Szenenabfolge auswählen – eine "offene Form", die Berg-Klokes "Lulu" also in jeder Produktion anders klingen lassen wird ... letztlich das, was der künftige "interaktive Film" mit seiner offenen Szenenwahl bringen soll ... Opas Oper also mit dem Pulsschlag zeitgenössischer Dramaturgie!

    Dirigent Michael Boder und das Team um Regisseur Stefan Herheim, also Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach, Heike Scheele (Bühne) und Gesine Völlm (Kostüme), entschieden sich für eine facettenreich lange Fassung des 3. Akt-Materials. Das zog den Abstieg Lulus bis zum Ende durch Jack the Ripper ein wenig hin, wo musikdramatisch ein Höllensturz gepasst hätte. Boder zeigte damit andererseits den Variationsreichtum der Neufassung: alles beeindruckend sicher und präzise, voran für die souverän immer wieder in einem Nacktkostüm agierende und klangschön singende Sine Bundgaard (Lulu), für das business-starke, emotional haltlose Bariton-Mannsbild von Johan Reiters Dr.Schön, für den an Alban Berg angenäherten Komponisten Alwa Johnny van Hals.

    Szenisch zeigt Herheim mit erstaunlich wissendem, bitterbösem Blick die Parallelen des Werteverfalls vor beiden Weltkriegen zur heutigen Situation. Grell nähert er den Prolog an Goethes "Faust-Vorspiel auf dem Theater" an und wählt dann den Zirkus als Gleichnis. Die Manege verwandelt Heike Scheele abermals handwerklich stupend. Dazu spielen Clowns in Totenmasken alles Dienstpersonal. Jede tote Hauptfigur wird sichtbar in einer banalen Schminkecke aus ihrem 20er-Jahre-Kostüm ebenfalls in einen weiterhin mitspielenden toten Clown verwandelt. "Wir alle sind letztlich traurige Clowns und Tote auf Urlaub" signalisiert Herheim. All das gipfelt in der szenischen Entlarvung, dass der Mensch zum Vieh, ja Schlachtvieh verkommt, wenn Liebe auf Sex, und Sex zur geldwerten Ware reduziert wird. So mutieren am Schluss auch die Clowns zu schwarzen Mann-Schablonen á la René Magritte. Zu den finalen Tönen fällt die letzte Kulisse um: eine Welt am Ende ... und wir alle müssen über die offensichtlichen Parallelen nachdenken. Diese Anstöße wurden in der Kopenhagener Premiere zu Recht bejubelt.