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Eine zweite Chance verdient

Als "Flakhelfer-Generation" bezeichnet man die Jahrgänge 1926/27 - die Alterskohorte von Günter Grass, Horst Ehmke oder Hans-Dietrich Genscher. Als Jugendliche tief infiltriert von der NS-Ideologie, wurden viele zu Gestaltern der Bonner Demokratie. Wie dieser Wandel möglich sein konnte, fragt ein Essay des Journalisten Malte Herwig.

Von Michael Kuhlmann | 13.05.2013
    Malte Herwig war überrascht, als er 2006 erfuhr, dass Günter Grass einmal Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Wie passte das zum Wirken des Schriftstellers in der Bundesrepublik?

    "Ich hab mich gefragt, ob das vielleicht gar nicht so untypisch ist für seine Generation. Dass wir uns was vormachen, wenn wir glauben, dass diejenigen, die wir als führende Demokraten kennengelernt haben in Deutschland, nicht als Demokraten geboren wurden! Sondern in der prägenden Zeit ihres Lebens der nationalsozialistischen Ideologie ausgesetzt waren – und ihr vielleicht auch verfallen waren."

    Wie konnten aus verblendeten Jugendlichen vorbildliche Demokraten werden? – das ist die zentrale Frage, die sich Malte Herwig in seinem neuen Buch "Die Flakhelfer" stellt. Auf den 320 flüssig geschriebenen Seiten findet der Leser biografische Anmerkungen zu einigen prominenten Vertretern der Flakhelfergeneration. Und auch zur Geschichte der Quellen, die von jugendlicher Verblendung zeugen: davon, wie die damals 18- oder 19-jährigen Parteimitglieder geworden waren. Noch 1987, so schreibt Herwig, lag die Liste der Prominenten unter Verschluss; so brisant war sie. Denn:

    Die Namen lasen sich wie ein who is who der deutschen Politik: Richard Stücklen, Hans-Dietrich Genscher, Karl Schiller, Theodor Oberländer, Horst Ehmke, Walter Scheel, Karl Carstens, Josef Ertl, Liselotte Funcke, Friedrich Zimmermann, Alfred Dregger, Erhard Eppler, Heinrich Lübke. Vom Kabinett Konrad Adenauers bis zu dem Helmut Kohls saßen in jeder deutschen Regierung ehemalige NSDAP-Mitglieder am Kabinettstisch.

    Gestützt auf Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft stellt Herwig zunächst klar, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen trotz späterer Dementis tatsächlich in der NSDAP waren - und dass sie es auch sein wollten. Daran allerdings knüpft der Autor die Frage, wie man das heute bewerten muss.

    "Sie müssen sich das vorstellen: Die sind 17, 18 Jahre alt. Sie sind – nach allem, was wir wissen – überzeugt davon, dass sie im richtigen Land leben, sich für die richtige Sache engagieren, für den Nationalsozialismus, für Hitler, so sind sie ja erzogen worden; man kann das Verblendung nennen, aber ich finde, es ist ziemlich verständlich, dass Menschen, die in so einer Diktatur aufwachsen und schon von früh an eine Gehirnwäsche erleben, dass die so denken."

    Darüber dürfe man also nicht kurzerhand den Stab brechen, schreibt Herwig. Er erinnert daran, dass die Nationalsozialisten die Jugend an einer besonders empfindlichen Stelle zu treffen wussten.

    "Das Besondere an dieser Generation ist, dass sie in hohem Maße Idealismusgeschädigt ist. Denn die Nazi-Ideologie baute ja auf den Idealismus, die Romantik, natürlich alles im Sinne einer fürchterlichen Barbarisierung und Verhunzung. Aber: Sie hat sich den Idealismus der Jugend zunutze gemacht. Und sie ist damit auch sehr weit gekommen."

    Mit dem Ende der Barbarei 1945 brach auch das geistige Fundament dieser Jugendlichen ein. Sie mussten umdenken – und dass die hier behandelten Vertreter das auch wirklich taten, zeigt ihr Engagement in der Bonner Republik. Das wiegt für Herwig den Makel der NSDAP-Mitgliedschaft bei Weitem auf.

    "Die Bedeutung der aufklärerischen Selbstemanzipation einer verführten Generation erkennt man erst, wenn man ihren prekären Ausgangspunkt nicht mehr leugnet. Verführt und verraten entließ sie das 'Dritte Reich' in eine ungewisse Zukunft, die sie meisterten. Ihr Schicksal verkörpert geradezu den Wandel vom Schlechten zum Guten."

    Autor
    Das gelte für Hans-Dietrich Genscher ebenso wie für Erhard Eppler, für den Komponisten Hans Werner Henze wie für den Schriftsteller Erich Loest. Einige aus dieser Flakhelfergeneration wollen sich allerdings heute nicht mehr daran erinnern können, jemals Parteimitglied gewesen zu sein.

    "Es gibt einen Zeitzeugen, der sagt: Ich war nicht in der NSDAP! Und es gibt dann eine Quelle, ein Dokument, das sagt: Doch, natürlich war er in der NSDAP. Ja, was macht man da? Nach meinem Verständnis kann man nicht hingehen und sagen: Schau mal, hier ist der Beweis, Du lügst mich an! Nein – ich glaube, wir haben es hier mit zwei unterschiedlichen Wahrheiten zu tun. Sie können ja einem Menschen nicht sagen, was er erlebt und empfunden hat. Das ist etwas, wo man erst mal zuhören muss. Dann hinterher habe ich mich hingesetzt und habe mich bemüht, die Geschichte dieser besonderen Generation aus diesem doppelten Blickwinkel aufzuschreiben."

    Freilich: Dieser Ansatz mag funktionieren, wenn man geläuterte Demokraten vor sich hat – die ihr einstiges Verhalten heute als Fehltritt begreifen. Wie aber, wenn dem Autor hier ein Ernst von Salomon gegenübergesessen hätte? Der hatte schon im Sommer 1934 genug gesehen, um zu wissen, dass die NS-Diktatur eine menschenverachtende Gewaltherrschaft war – dennoch trat Salomon später in die Partei ein; nach 1945 verharmloste er die Jahre der braunen Diktatur.

    Streng genommen zeichnet "Die Flakhelfer" also nicht genau nach, wie NSDAP-Mitglieder zu Demokraten wurden; dazu ist die biografische Darstellung zu knapp und zu essayistisch angelegt. Malte Herwig wirft vielmehr Schlaglichter auf vorbildliche Fälle des Umdenkens. Im Stile eines Literaturwissenschaftlers konzentriert er sich schließlich auf Texte der Schriftsteller Günter Grass und Martin Walser.

    "Grass' Blechtrommel ist wie seine anderen Werke repräsentativ für die Vergangenheitsbewältigung der Flakhelfer. Sie schreiben, komponieren, forschen, engagieren sich unermüdlich. Und entlasten sich dadurch von dem Bekenntnisdruck, den das teilweise Verdrängte ihnen aufnötigt. Es ist ja alles da – man muss nur genau hinschauen. Was zählt dagegen schon ein profanes Interviewbekenntnis: 'Ja, ich war dabei als Mitglied der NSDAP oder der Waffen-SS'"

    Allerdings bleibt das Buch den Nachweis schuldig, dass solche Vergangenheitsbewältigung für Grass' Altersgruppe wirklich repräsentativ ist. Der Soziologe Helmut Schelsky stellte schon 1957 heraus, dass die meisten Angehörigen dieser "skeptischen Generation" eben keine in der Wolle gefärbten Demokraten waren. Und noch heute gibt es auch die anderen aus diesen Jahrgängen: die sich nie ganz vom nationalsozialistischen Weltbild gelöst haben. Malte Herwigs Buch ist mit seinen Denkanstößen ein lesenswerter Essay. Allerdings kann es eine gründliche historisch-soziologische Darstellung nicht ersetzen. Herwig macht immerhin bewusst, wie richtig es war, den Flakhelfern nach 1945 eine zweite Chance einzuräumen. Diejenigen, die diese Chance nutzten, haben vielfach ihren Beitrag geleistet zum Gelingen der Bonner Demokratie.

    Malte Herwig: "Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden"
    Deutsche Verlags-Anstalt, 320 Seiten, 22,99 Euro
    ISBN: 978-3-421-04556-0