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Einer der bekanntesten Germanisten der frühen Bundesrepublik

In der Adenauer-Ära galt der Literaturwissenschaftler Benno von Wiese als der bekannteste Repräsentant seines Fachs war. Seit Mitte der 60er-Jahre war er auch einer der umstrittensten. Seine Kritiker sahen ihn als Repräsentant eines überlebten Kulturidealismus, der sich gegen die Modernisierung seiner Wissenschaft sperrte.

Von Bert-Oliver Manig | 31.01.2012
    In der frühen Bundesrepublik war Benno von Wiese einer der einflussreichsten und bekanntesten Germanisten. Seit Mitte der 60er-Jahre war er auch einer der umstrittensten. Seinen Kritikern galt der 1903 geborene Schüler Friedrich Gundolfs als Repräsentant eines überlebten Kulturidealismus, der sich gegen die Modernisierung seiner Wissenschaft sperrte:

    "In der Tat bin ich so in den 60er und 70er-Jahren wohl schon sehr gezaust worden. Aber ich habe es einigermaßen gut überstanden und kann jetzt nur feststellen, dass gerade die jüngeren Generationen zu uns Älteren augenblicklich erstaunlich zurückkehren, weil sie diesen ununterbrochenen, festgelegten Stil vorgefasster Meinungen nicht leiden können."

    Als Benno von Wiese 1978 auf die Auseinandersetzungen in den 60er-Jahren zurückblickte, war die Konjunktur der "kritischen" Germanistik, die eine Hinwendung zu populären und engagierten Formen der Literatur und zu soziologischen Fragestellungen gefordert hatte, tatsächlich wieder etwas abgeflaut.

    Doch es gab nach der Studentenrevolte keinen Weg zurück in die Adenauer-Zeit, auch in der Germanistik nicht. Damals, als er Neuere Literaturgeschichte in Münster und ab 1957 in Bonn lehrte, hatte Benno von Wiese seine beste Zeit. Gemeinsam mit Generationsgenossen wie dem Zürcher Germanisten Emil Staiger und dem Göttinger Gelehrten Wolfgang Kayser prägte er die Ära der "werkimmanenten Interpretation": Die möglichst textnahe Deutung stand im Zentrum der Literaturwissenschaft. Wieses Schüler Karl Otto Conrady erinnert sich an sein Studium in den frühen 50er-Jahren:

    "Es war ein genussvoller Aufenthalt in der Sphäre des Schönen, dem wir inmitten der Trümmerstädte und während der wuchernden Hektik der Jahre des äußeren Wiederaufbaus frönten. Man siedelte sich in der vermeintlich unabhängigen Zone des Ästhetischen, des sprachlichen Kunstwerks an und besorgte Literaturgeschichte allein als Geschichte der Literatur und des Geistes."

    Wieses Bücher waren große Erfolge auf dem Buchmarkt. Sie waren gerade in ihrer Ideologieskepsis zeitgemäß. So befreite Wieses 1959 vorgelegte große Schiller-Biografie den Dichter von früheren nationalistischen Vereinnahmungen. Auch die 1954 von ihm neu herausgegebene, klassische Gedichtanthologie, "der Echtermeyer-von Wiese", wurde von ihm durch die Streichung der Heimatlyrik gleichsam stillschweigend "entnazifiziert."

    Ein Höhepunkt seiner Laufbahn war 1959 die Berufung zum westdeutschen Herausgeber der Schiller-Nationalausgabe. Die Bezeichnung "Großgermanist" ließ sich Benno von Wiese gefallen, doch die Titulierung als "Literaturpapst" hörte er nicht gern.

    "Ich hasse jeden Dogmatismus. Und ich bin, wenn Sie mich schon fragen, wo denn nun eigentlich meine Substanz sitzen könnte, dann würde ich sagen: Im besten Sinne des Wortes versuche ich ein Liberaler zu sein, vielleicht mit einem gewissen konservativen Bewusstsein dabei."

    Liberalität bewies Benno von Wiese, als er sich 1960 in der Jury des Bremer Literaturpreises für Günter Grass’ Roman "Die Blechtrommel" einsetzte und aus dem Preisgericht ausschied, nachdem sich der Bremer Senat geweigert hatte, das als obszön geltende Werk auszuzeichnen. Doch Mitte der 60er-Jahre wurde bekannt, dass von Wiese nicht immer für die Freiheit des Geistes gefochten hatte: 1933 war er als junger Dozent opportunistisch in die NSDAP eingetreten, obwohl seine engen Freunde Hannah Arendt und Richard Alewyn als Juden diskriminiert wurden.

    Die Verstrickung in den Nationalsozialismus, die Benno von Wiese mit vielen Germanisten seiner Generation teilte, trug in den 60er-Jahren bei jüngeren Germanisten zur Diskreditierung der werkimmanenten Methode bei. Die stattdessen geforderte "gesellschaftlich relevante" Literaturwissenschaft lehnte von Wiese strikt ab. Bis zu seinem Tod am 31. Januar 1987 hielt er daran fest, dass es der Literaturwissenschaft um die ästhetischen Qualitäten des autonomen sprachlichen Kunstwerks gehen müsse:

    "Man mag dies heute als bürgerlichen Idealismus oder als theologisierende Mystik schelten. Kommende Zeiten werden aber erst darüber zu entscheiden haben, ob sich ohne eine solche freie Neuschöpfung der Welt durch die Dichter, die mit einer bloßen Abspiegelung des Empirischen nicht verwechselt werden darf, in dieser unserer Welt überhaupt menschlich leben lässt."