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Einer der Väter der Bundeswehr

Ulrich de Maizière war ein General der Bundeswehr. Er wurde 1912 geboren. Sein Weg führte in die Reichswehr, die Wehrmacht und schließlich zur westdeutschen Nachkriegsarmee. Anlässlich seines 100. Geburtstages hat John Zimmermann die erste Biografie über ihn verfasst.

Von Otto Langels | 20.02.2012
    "Bitte vergessen Sie bei allen Erwartungen nicht, dass auch der Inspekteur des Heeres nur ein Teil des Bundesverteidigungsministeriums ist, dass sich seine Befugnisse aus der Befehls- und Kommandogewalt des Ministers ableiten und dass er sich daher in seiner Auswirkungsmöglichkeit in die Notwendigkeiten und Grenzen des Ganzen einzufügen hat."

    Eine Stellungnahme von Generalleutnant Ulrich de Maizière aus dem Jahr 1964 nach seiner Ernennung zum Inspekteur des Heeres - eine für den Soldaten de Maizière typische Äußerung, weil darin von den Zwängen und Grenzen militärischen Handelns die Rede ist. Denn zeit seines Lebens, so sein Biograf John Zimmermann, standen für ihn Pflicht, Ordnung und Disziplin im Mittelpunkt.

    "Pflichterfüllung war für ihn letztendlich der Ausgangspunkt von allem. Er hatte sich diesem Staat verpflichtet, er hatte sich der Armee verpflichtet, und es war ihm unter andern Tugenden vielleicht die wichtigste."

    Nicht zufällig gab Ulrich de Maizière seinen eigenen, autobiografischen Erinnerungen aus dem Jahr 1989 den programmatischen Titel "In der Pflicht". De Maizières militärische Laufbahn begann 1930 mit dem Eintritt in die Reichswehr, da war er 18 Jahre alt. Obwohl er als musischer Mensch und schmächtiger Brillenträger nicht dem vorherrschenden Bild des Soldaten entsprach, machte er Karriere und stieg in der Wehrmacht zum Generalstabsoffizier auf. Der Historiker John Zimmermann vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam zeichnet in der kenntnisreichen, sorgfältig recherchierten Biografie den militärischen Werdegang de Maizières akribisch nach. Nicht nur wegen seines 100. Geburtstags, sondern auch wegen seiner herausragenden Rolle als einer der "Väter der Bundeswehr" bot er sich für eine gründliche Betrachtung an. Zimmermann streift nur kurz Kindheit und Jugend und wendet sich dann vor allem der Offizierslaufbahn Ulrich de Maizières zu, bis zu dessen Ausscheiden aus dem aktiven Dienst 1972. Im Generalstab des Heeres lernte er während des Zweiten Weltkriegs u. a. Claus von Stauffenberg kennen. Im Gegensatz zum späteren Hitlerattentäter konnte sich de Maizière jedoch nicht zu einem aktiven Widerstand gegen das NS-Regime durchringen.

    "Angesichts des zentralen Wertes der Pflichterfüllung für sein gesamtes Leben gehe ich davon aus, dass er tatsächlich auch deswegen nicht handeln konnte, weil es für ihn – wir kennen das aus anderen Quellen ja auch von anderen Personen – schlechterdings nicht möglich war, gegen den eigenen Staat zu handeln, dem er per Eid sich verpflichtet hatte, auch in der Eidfassung, so wie er sie verstand, gegenüber dem Staatsoberhaupt."

    Nach einer Kriegsverletzung kehrte Ulrich de Maizière noch Anfang 1945 ohne Not freiwillig in den Generalstab zurück, trug wiederholt Hitler persönlich Berichte zur Frontlage vor und kam bis zum Untergang des NS-Regimes dem nach, was er als seine Pflicht ansah, Anordnungen entgegenzunehmen und auszuführen. Obwohl er Befehle gegenzeichnete und weitergab, wonach "schwächliche, untätige oder defätistische" Personen an der Front sofort "auszumerzen" seien, äußerte er sich später nie öffentlich, ob und wieweit er die Verbrechen der Wehrmacht wahrgenommen hatte.

    "Die Haltung Ulrich de Maizières gerade zum Nationalsozialismus ist sicher eine, die wir typischerweise von anderen Vertretern aus dieser Generation kennen, wo ein diffuser Nebel vorherrscht zwischen Nichtwissen oder nicht wissen wollen, nicht genau wissen wollen, das heißt, man bekommt schon mit, was eigentlich los ist, man möchte aber nicht so genau nachfragen, womöglich auch deshalb nicht so genau nachfragen, weil man sich positionieren müsste, Stellung beziehen müsste, für sich selber Stellung beziehen müsste und handeln müsste."

    Der Autor kann diesen diffusen Nebel allerdings auch nicht durchdringen, weil er nicht alle Seiten im Leben Ulrich de Maizières ausleuchtet, sondern sich auf die militärische Karriere konzentriert. Man hätte als Leser an manchen Stellen gern mehr erfahren über den Menschen Ulrich de Maizière, über seine Ein- und Vorstellungen jenseits des soldatischen Lebens, über Gedanken und Emotionen im Angesicht des erbarmungslosen Mordens im Zweiten Weltkrieg. Auch bleibt für die Zeit nach 1945 das Verhältnis zum Familienzweig in der DDR völlig ausgespart. Die Frage, wie Ulrich de Maizière zu seinem älteren Bruder Clemens stand, einem Stasispitzel wird nicht thematisiert, ein Manko, weil ein Vergleich zwischen den verschiedenen Lebenswegen reizvoll gewesen wäre: hier Ulrich de Maizière mit seinem Sohn Thomas, dem heutigen Verteidigungsminister, dort Clemens mit seinem Sohn Lothar, dem letzten DDR-Ministerpräsidenten. John Zimmermanns gewissermaßen militärisch geschulter Blick gilt jedoch ausschließlich der Entwicklung in der Bundesrepublik und dem Wiederaufbau der Streitkräfte. Nach der Rückkehr aus britischer Kriegsgefangenschaft und einem beruflichen Ausflug in den Buchhandel trieb Ulrich de Maizière ab 1950 in der sogenannten "Dienststelle Blank" den Aufbau der Bundeswehr voran und wurde zu einem ihrer Gründerväter.

    "Eine der wesentlichen persönlichen Fähigkeiten, die ich an Ulrich de Maizière herausgefunden habe, ist, dass er tatsächlich in der Lage war, noch die unterschiedlichsten Positionen in einem Gespräch, möge es auch ein Streitgespräch gewesen sein, in einem Konsens zusammenzuführen. Insofern war er gerade für die junge Bundeswehr, die ja aus vielen Kriegsgedienten bestanden hat, gleichwohl auch aus ungedienten Kriegskindern, aus verschiedenen sozialen Milieus, genau der richtige Mann am richtigen Ort."

    Als Lehre aus der NS-Zeit implantierte de Maizière mit anderen Offizieren der Bundeswehr von Beginn an das Konzept der "Inneren Führung" und das Leitbild des "Staatsbürgers in Uniform". Die Armee sollte den Frieden sichern, nach demokratischen Prinzipien aufgebaut sein, der parlamentarischen Kontrolle unterliegen und – im Einklang mit den militärischen Pflichten der Soldaten - sich in die Institutionen eines Rechtsstaates einfügen, unabhängig von wechselnden parteipolitischen Mehrheiten. In den bewegten 1960er-Jahren mit Notstandsgesetzgebung, Jugendrevolte, verändertem Politikverständnis und Regierungswechsel lebte Ulrich de Maizière als "Prototyp des bundesrepublikanischen Generalstabsoffiziers", wie Zimmermann schreibt, den Staatsbürger in Uniform vor, im Unterschied zu manchen alten Kameraden aus der Wehrmacht mit ihren autoritären, antidemokratischen Vorstellungen.

    "Ich denke, gerade durch seine Offenheit, durch die Fähigkeit, auch politisch zu denken, war für ihn – für andere mag das problematischer gewesen sein – dieser grundsätzliche Wechsel auch der Regierungsverantwortung von der CDU auf die SPD kein Problem."

    Mit seiner Biografie über Ulrich de Maizière macht John Zimmermann einen Anfang, eine Lücke in der historischen Forschung zu schließen, nämlich die Kontinuitäten und Brüche zwischen Wehrmacht und Bundeswehr an einzelnen Personen nachzuzeichnen; eine interessante Lektüre, insbesondere für Leser mit ausgeprägtem militärgeschichtlichem Interesse.

    John Zimmermann: "Ulrich de Maiziere. General der Bonner Republik. 1912 – 2006"
    Oldenbourg-Verlag, 34, 80 Euro, 534 Seiten.