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"Eines der grausamsten Netzwerke des Menschenhandels"

Auf der ägyptischen Sinai-Halbinsel werden Tausende Afrikaner gefoltert, um von ihren Familien Lösegeld zu erpressen. Das hat der Journalist Michael Obert recherchiert. Er sagt: Die Brutalität der Menschenhändler könnte ein Erbe der ägyptischen Diktatur sein. Die EU dürfe nicht tatenlos zusehen.

Michael Obert im Gespräch mit Christoph Heinemann | 02.08.2013
    Christoph Heinemann: Die Sinai-Halbinsel ist etwas kleiner als der Freistaat Bayern. Der Süden ist während der Sommerferien, also im schönsten Ausnahmezustand des Jahres, Ziel zahlreicher Urlauber, Sharm el-Sheikh kennen viele hierzulande. Wir wollen heute über die Lage im Norden des Sinai sprechen, etwa in der Provinzhauptstadt Al-Arish. Auch dort halten sich Menschen unter besonderen Umständen auf - aber nicht als Touristen, vielmehr als Gefangene, als Geiseln, mit denen Beduinenstämme Geld erpressen. Es sind Flüchtlinge aus dem nordöstlichen Afrika, etwa aus Eritrea, die von Banden gekidnappt und an Menschenhändler verkauft werden. Diese Flüchtlinge werden so lange gefoltert, bis ihre Angehörigen zahlen. Einer der wenigen Journalisten, die darüber berichten und sich in diesen nördlichen Teil des Sinai trauen, ist Michael Obert. Er hat seine Eindrücke in einer Reportage für das Magazin der "Süddeutschen Zeitung" geschildert. Michael Obert hat Opfer, die die Torturen der Menschenhändler überlebt haben, in Tel Aviv, in Israel getroffen und uns vor dieser Sendung geschildert, was sie über ihre Zeit in den Beduinenlagern erzählt haben.

    Michael Obert: Ganz schlimme Folter, mit Eisenstangen geschlagen worden, Stromstöße, Vergewaltigungen an der Tagesordnung, Menschen, die an den Händen an Fleischerhaken aufgehängt werden, tagelang. Und es geht darum, über diese Folter von ihren Verwandten, die am Telefon, am Mobiltelefon angerufen werden während der Folter, von diesen Verwandten in der ganzen Welt Lösegelder zu erpressen.

    Heinemann: Um welche Summen geht es dabei? Was ist ein Menschenleben wert?

    Obert: Ein Menschenleben ist wert zwischen 30.000 und bis zu 50.000 US-Dollar. Das sind wahnsinnige Summen, wenn man sich vorstellt, dass die Geiseln, die Gefolterten, die Opfer aus den ärmsten Ländern der Welt kommen, zum Beispiel eben hauptsächlich aus Eritrea. Die Verwandten zu Hause verdienen oft weniger als 100, 200 Euro im Jahr, das heißt, das sind wahnsinnige Summen. Und die Menschen, die Väter, die Mütter, die Geschwister verkaufen Haus und Hof und Tiere, um dieses Geld zusammenzubringen, und es wird auch in den Exilgemeinschaften der afrikanischen Migranten, also in Europa, Amerika und auch in Israel, gesammelt, damit diese Menschen aus dieser grausamen Folter ausgelöst werden können.

    Heinemann: Und wenn die Angehörigen das Geld nicht zusammenbringen?

    Obert: Ja, das ist das Perfide daran: So lange das Geld, das Lösegeld nicht zusammengekratzt und überwiesen ist an Mittelsmänner per Western Union, in Israel zum Beispiel, so lange das Geld, das Lösegeld nicht überwiesen ist, hört die Folter nicht auf und auch die Anrufe hören nicht auf. Also Sie müssen sich vorstellen, Ihr Telefon klingelt, Sie sind ein Eritreer in Deutschland oder irgendwo in Europa, und ihr Bruder meldet sich und im nächsten Moment hören Sie seine Schreie am Telefon und müssen sich darüber klar werden, dass er mit den brutalsten Mitteln gefoltert wird. Dann wird ihm das Telefon aus der Hand genommen und die Folterer sagen Ihnen, also entweder, wir kriegen von dir 30.000, 40.000, 50.000 Dollar, oder dein Bruder stirbt.

    Heinemann: Herr Obert, kann man abschätzen, wie viele Menschen dort gefangen gehalten und misshandelt werden?

    Obert: Im Moment schätzen Experten, mit denen ich auch vor Ort zu tun hatte, dass etwa 1000 afrikanische Migranten in diesen Foltercamps gefangen gehalten und misshandelt werden.

    Heinemann: Sie haben in Ihrer Reportage von einem international operierenden Netzwerk von Menschenhändlern gesprochen beziehungsweise darüber geschrieben. Was ist über die Drahtzieher dieser Erpressungen bekannt?

    Obert: Ja, es handelt sich um ein bestens organisiertes, internationales Netzwerk von Menschenhändlern. Dieses Netzwerk wird von den Vereinten Nationen als eines der grausamsten Netzwerke des Menschenhandels bezeichnet und eingeschätzt. Die Drahtzieher verteilen sich auf die gesamte Menschenhandelsroute, wenn man das so nennen möchte. Man muss dazu wissen, dass Eritrea eine Diktatur ist, eine brutale Diktatur, bis zu 250.000 Menschen sind in den letzten Jahren aus Eritrea geflohen in den benachbarten Sudan. Und dort, in diesen Flüchtlingscamps der Vereinten Nationen - das größte heißt Shagarab -, dort werden diese Menschen, die dort eigentlich Zuflucht und Schutz suchen, von organisierten Banden massenweise entführt und dann durch den Norden des Sudan hinüber in die ägyptische Wüste gebracht, dort gesammelt und dann in Lastwagen, als Gemüse- oder Geflügeltransporter getarnte Lastwagen, zusammengepfercht, 100, 150 Menschen, dann quer durch Ägypten gekarrt über die Sueskanal-Brücke hinüber auf die Sinai-Insel, wo sie dann bestimmte, auf den Menschenhandel spezialisierte Gruppen der Beduinen in Empfang nehmen und dann dort dieses grausame Geschäft zu Ende bringen mit einer monatelangen Folter, die dann im Sinne der Beduinen, der Folterer sehr häufig eben mit Lösegeldzahlung abgeschlossen wird. Viele, viele Hunderte, wahrscheinlich Tausende von Menschen überleben diese Torturen aber nicht, ihre Körper verrotten in der Wüste, also wenn sie sterben, dann werfen die Beduinen diese Menschen einfach in die Wüsten und lassen sie dort verwesen.

    Heinemann: Es wird auch über Organhandel gesprochen, darüber, dass entführte Flüchtlinge gezielt ausgeschlachtet werden für reiche Patienten in Kairo. Es gab diesen Autounfall eines Kairoer Arztes auf dem Sinai, in dessen Auto eine Kühlbox mit menschlichen Organen gefunden wurde. Gehen Sie davon aus, dass das gezielt betrieben wird?

    Obert: Ich war jetzt mehrmals in der Gegend unterwegs, zuletzt jetzt eben für diese Geschichte, große Geschichte im "SZ-Magazin". Menschenrechtler zeigen mir dort Fotos von toten Afrikanern, die sie in der Wüste gefunden haben, die Brustkörbe sind aufgesägt, die Seiten, unter denen dann die Nieren oder die Lebern liegen, sind aufgeschnitten und zum Teil auch wird da sehr, sehr fachmännisch zusammengenäht. Ich habe auch mit sehr, sehr vielen Opfern gesprochen, also mit sehr vielen Menschen, die in diesen Foltercamps waren. Auch die haben mir erzählt, dass die Geiselnehmer, die Folterer oft drohen: Wenn deine Familie nicht bezahlt, dann schneiden wir euch die Lebern raus, oder wir nehmen euch die Augen raus. Aber gesehen, tatsächlich gesehen hat niemand einen solchen Organraub. Es wird ja behauptet, dass die Ärzte in Geländewagen, schweren Geländewagen, aus Kairo in die Wüste fahren, auf Bestellung sozusagen dann im Sinai aktiv werden, dort mobile Operationszelte aufschlagen in der Wüste und sich dann aus den Foltercamps ihre Opfer holen, die sie dann wie in einem Autoersatzhandel sozusagen aufschneiden und sich dort bedienen. Aber wie gesagt, gesehen hat niemand einen solchen Organraub. Und diese ganze Organgeschichte bleibt auch nach wie vor sehr, sehr nebulös.

    Heinemann: Sie haben mit einem Folterknecht, der Gefangene misshandelt, sprechen können. Wie dachte dieser Mann über sein Handwerk und wie hat er darüber gesprochen?

    Obert: Ja, Sie müssen sich vorstellen: Wir sitzen in der Wüste, Matten sind auf dem Boden ausgebreitet im Sand, die Sonne geht unter, es ist ein schönes Licht, ein Mann kommt in wehendem Gewand näher und setzt sich und wir trinken Tee, und es ist alles sehr fast schon idyllisch. Aber wir trinken Tee nicht mit einem Freund, sondern wir trinken Tee mit einem Mörder. Und dieser Mann hat über seine brutalsten, grausamen Folterakte gesprochen, als würde er über die Pfirsichernte sprechen, völlig normal für ihn, nackte, afrikanische Migranten in Strohmatten einzuwickeln, die Strohmatten anzuzünden. Ganz brutale Akte, wie Geiseln auf einen glühenden Rost zu werfen, kommentierte er mit einem Lächeln und, nachdem er noch mal an seinem Tee genippt hatte, mit den Worten "black meat" – schwarzes Fleisch.

    Heinemann: Wo haben diese Leute ihr, in Anführungszeichen, Handwerk gelernt?

    Obert: Ich habe ihn auch gefragt: Wie kommt man auf solche brutalen Ideen? Und er sagte dann, ja, wir Beduinen, wir sind unter der Diktatur von Mubarak jahrzehntelang selbst oft grundlos eingesperrt worden in die Kerker der Diktatur und sind dort mit brutalsten Mitteln selbst gefoltert worden, grundlos, nur weil wir den Beduinenvölkern angehören, und seiner Meinung nach haben die Folterer die grausamen Techniken und dieses grausame Handwerk in den Folterkammern von Hosni Mubarak gelernt. Demnach wäre der grausame Menschenhandel auf dem Sinai ein Erbe der ägyptischen Diktatur.

    Heinemann: Herr Obert, Sie haben geschrieben, dass ausgerechnet die Islamisten im Norden des Sinai als Ordnungsmacht auftreten und den Menschenhandel beenden wollen.

    Obert: Die Einzigen, die tatsächlich aktiv und einigermaßen wirksam gegen den grausamen Menschenhandel im Sinai vorgehen, sind diejenigen, die weltweit als Terroristen verschrien sind, das sind die radikalen, fundamentalistischen Islamisten, die einem sehr, sehr strengen Islam folgen, und das beinhaltet für sie, dass sie nicht wegsehen können, wenn Menschen leiden. Die fackeln auch nicht lange. Da wird einem Menschenhändler gedroht, das habe ich selbst vor Ort so recherchieren können, da wird einem Menschenhändler gedroht: Kehre auf den rechten Pfad zurück, auf den Pfad Gottes, höre auf, Menschen zu foltern und zu misshandeln, oder du stirbst. Und wenn in einer sehr kurz bemessenen Frist darauf nicht eingegangen wird, dann sind mehrere Menschenhändler erschossen worden in den letzten Monaten.

    Heinemann: Herr Obert, wie verhält sich die Europäische Union und die Bundesregierung?

    Obert: Die Europäische Union und die Bundesregierung sind nach schriftlichen Quellen, die mir vorliegen, bestens über die grausamen Zustände, die auf dem Sinai herrschen, informiert. Die Hoheit auf dem Sinai hat die ägyptische Regierung. Deutschland ist der drittgrößte Handelspartner von Ägypten. Und als der damals noch amtierende Präsident Mursi bei Angela Merkel zu Besuch war, wurde über Tourismus gesprochen, über Entwicklungshilfe, aber in der abschließenden Erklärung von Bundeskanzlerin Merkel fiel über das Wort Menschenhandel, Folter, möglicherweise Organraub auf dem Sinai kein Wort. Die europäischen Regierungen und die deutsche Regierung wissen bestens Bescheid, schauen weg und es passiert nichts. Die europäischen Regierungen inklusive der deutschen Regierung, die haben Mittel, entsprechenden Druck auf Kairo auszuüben, auch auf eine Übergangsregierung, und dieser Druck fehlt, dieser Druck wird nicht ausgeübt.

    Heinemann: Der Journalist Michael Obert, das Gespräch haben wir vor dieser Sendung aufgezeichnet. Und wenn wir im Anschluss an Nachrichten und Presseschau gegen 7.15 Uhr mit dem FDP-Außenpolitiker Rainer Stinner über Guido Westerwelles Ägyptenreise sprechen, dann fragen wir ihn auch, warum die Bundesregierung den Menschenhandel auf dem Sinai bislang totschweigt.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.