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"Eingriff in die Grundrechte aller"

Nach der Terrorserie in Toulouse hat die EU-Kommission die Debatte um die Vorratsdatenspeicherung in der Koalition neu entflammt. Hans-Christian Ströbele, Bündnis 90/Die Grünen, hält die Forderung nach Fluggastdatenspeicherung für falsch: Im Fall des Täters in Toulouse hätte diese Speicherung überhaupt nichts bewirken können.

Dirk-Oliver Heckmann im Gespräch mit Hans-Christian Ströbele | 23.03.2012
    Dirk-Oliver Heckmann: Die EU-Kommission hat gestern dafür gesorgt, dass ein alter Streit in der Koalition neu aufflammt: der um die vorsorgliche Speicherung von Telekommunikationsdaten, der sogenannten Vorratsdatenspeicherung, etwa zur Terrorabwehr. Denn Brüssel hat Berlin eine letzte Frist gesetzt, eine entsprechende Richtlinie in nationales Recht umzusetzen – Wasser auf die Mühlen der Union, die das bereits seit geraumer Zeit einfordert.

    Am Telefon begrüße ich dazu Hans-Christian Ströbele von Bündnis 90/Die Grünen, Mitglied im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages. Schönen guten Tag!

    Hans-Christian Ströbele: Ja, guten Tag.

    Heckmann: Herr Ströbele, gibt es Anlass, über unsere Sicherheitsgesetze nachzudenken, nach der Terrorserie in Toulouse?

    Ströbele: Ja, natürlich. Da gibt es immer Anlass dazu, darüber nachzudenken. Das ist nie falsch. Das tun wir, das tun aber auch die Franzosen völlig zurecht. Nur dass man gleich jetzt neue rechtseinschränkende, grundrechtseinschränkende Forderungen stellt, das halte ich nicht für richtig, zumal diese Fluggast-Datenspeicherung ja hier überhaupt nichts bewirkt hätte. Das war ja möglicherweise ein einsamer Wolf, wie man so sagt, der Täter oder der mutmaßliche Täter von diesen schrecklichen Morden, aber der war ja bekannt. Er war ja den französischen Behörden bekannt. Denen war auch bekannt, dass er ins Ausland reist, auch ohne eine Fluggast-Datenspeicherung.

    Heckmann: Aber in den USA stand er auf einer Einreise-Verbotsliste und in Europa lief er frei herum.

    Ströbele: Ja, aber das ist doch eine Frage, die Sie an die französischen Behörden stellen. Dass er nicht nach Europa einreisen dürfte, das wäre auch nicht gewesen, wenn es eine Fluggast-Datenspeicherung gegeben hätte und wenn er da draufgestanden hätte auf der Liste. Er war französischer Staatsbürger und durfte deshalb selbstverständlich nach Europa einreisen, ganz egal was in irgendwelchen Listen steht. Und die französischen Behörden haben ja offenbar auch gewusst, dass er erstens auf der Liste der Amerikaner stand, und zweitens auch, dass er in Afghanistan gewesen ist, dass er da sogar festgenommen worden ist.

    Das heißt, alles das, was möglicherweise aus einer Fluggast-Datenspeicherung hätte bekannt werden können, das wussten die französischen Behörden. Warum sie trotzdem ihn aus den Augen verloren haben und trotzdem ihn auch nach den ersten Morden nicht schneller identifiziert haben, das kann ich natürlich nicht beurteilen, weil ich die Unterlagen nicht kenne.

    Heckmann: Der Anti-Terror-Beauftragte der EU, de Kerckhove, begründet seinen Vorstoß damit, dass mit einem solchen Register die Reisen von Terrorverdächtigen verfolgt werden könnten, die der Polizei nicht bekannt seien. Das heißt, diese Begründung passt auf diesen Fall gar nicht?

    Ströbele: Nein, das passt hier überhaupt nicht. Das wäre überhaupt der völlig falsche Anlass. Aber man muss ja sehen: Was bringt das überhaupt? Welche zusätzlichen Möglichkeiten eröffnen sich da? Und da muss man abwägen den Eingriff in die Grundrechte aller, weil von der Fluggast-Datenspeicherung wären ja nicht nur Terrorverdächtige – die will man ja gerade damit rauskriegen und überwachen – betroffen, sondern da wären alle betroffen.

    Das heißt, wir haben ja Erfahrung mit der Fluggast-Datenspeicherung, die die USA benutzen, woraus sie ihre Listen speichern. Da steht dann alles mögliche über die verschiedenen Bürger drin. Das sind dann mindestens 19 Datensätze, die da genehmigt worden sind, und da sollen solche Speicherungen drin gewesen sein – ich kenne die ja nicht – wie zum Beispiel, was für ein Buch hat jemand gelesen, der in einem Flugzeug geflogen ist, oder mit wem hat er übernachtet, hat er in einem Ein- oder Zweibettzimmer übernachtet. Das kann doch nicht wahr sein, dass jetzt von allen Flugreisenden so was gespeichert wird, weil man meint, damit zusätzliche Sicherheit schaffen zu können, obwohl gerade in diesem Fall sich zeigt, dass das überhaupt nicht der Fall ist.

    Heckmann: Aber welche Folgerungen, Herr Ströbele, sollen denn aus dieser Terrorserie gezogen werden? Kann denn einfach alles so bleiben wie es ist?

    Ströbele: Nein. Natürlich müssen die französischen Behörden – und die sind ja auch dabei, wenn ich die Meldungen aus Frankreich, aus Paris richtig verstehe, das jetzt aufzuarbeiten – die müssen das aufarbeiten. Die müssen mal klären, wie konnte es passieren, dass jemand, der so im Fokus der Behörden, der französischen, sowohl des Geheimdienstes als auch offenbar der Polizei, stand, der selber vorbestraft war wegen Gewalttaten, warum man dem nicht eine andere Aufmerksamkeit gewidmet hat, als das hier offensichtlich der Fall gewesen ist. Das muss aufgeklärt werden.

    Aber vieles von dem, was der französische Staatspräsident Sarkozy jetzt auch gefordert hat an zusätzlichen Gesetzen, das gibt es bei uns längst. Zum Beispiel fordert er, dass verboten werden muss, dass Leute etwa nach Afghanistan, in den Jemen oder nach Somalia sich begeben und dort sich in Camps ausbilden lassen an Waffen, um dann hier Gewalttaten zu begehen. Das ist bei uns seit 2009 unter Strafe gestellt. Das war nicht unumstritten, die Rechtsvorschriften, die da erlassen worden sind, aber das ist bei uns geltendes Recht, genauso wie die Forderung des französischen Staatspräsidenten, dass nämlich die Kontaktaufnahme zu terroristischen Gruppen etwa im Internet, dass das unter Strafe gestellt werden soll. Auch das ist in Deutschland strafbar.

    Heckmann: Herr Ströbele, vielleicht noch ein Wort zu der gestrigen Entscheidung der Innenminister, zunächst einmal abzuwarten, was ein neuerliches NPD-Verbot angeht. Eine richtige Entscheidung aus Ihrer Sicht?

    Ströbele: Es war ein wichtiger Schritt, dass die Innenminister jetzt beschlossen haben, aus den Vorständen, Landes- und Bundesvorstand der NPD, die V-Leute abzuziehen. Nur ich sage: Das reicht nicht, weil auch in anderen Ebenen der NPD sind V-Leute tätig, und zwar sehr aktiv, auch mit hoher Bezahlung ganz offensichtlich durch die Verfassungsschutzämter, also durch den Geheimdienst, und die können genauso viel mindestens bewirken, wie das möglicherweise ein mehr oder weniger interessiertes Vorstandsmitglied jetzt aus einem Landesvorstand. Das heißt, diese Maßnahme ist ungenügend, beseitigt nicht die Bedenken des Bundesverfassungsgerichts, und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich große Skepsis habe, ob dieser schnelle Weg hin zu einem NPD-Verbotsverfahren, ob der richtig ist. Ich halte ihn auch politisch für nicht gerechtfertigt.

    Heckmann: Der Bündnis-Grüne Hans-Christian Ströbele live hier im Deutschlandfunk. Schönen Dank.

    Ströbele: Ja.

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