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Einheitliches Paragrafenmonster

Am 19. Juli 1911 setzte der Kaiser die Reichsversicherungsordnung mit seiner Unterschrift in Kraft. Für die Rechts- und Verwaltungsgeschichte war sie von größter Bedeutung, schließlich wurde sie erst 1976 schrittweise vom Sozialgesetzbuch abgelöst und gilt in Teilen bis heute.

Von Martin Hartwig | 19.07.2011
    Am Ende war niemand so recht zufrieden mit dem Werk. Selbst seine Schöpfer hatten den Verdacht, dass irgendetwas schief gelaufen war.

    "So wertvoll auch die Vereinigung des gesamtes Rechtsstoffs der sozialen Versicherung in einem Gesetze gewesen sein mag, so hat doch das dadurch bedingte Auseinanderziehen zusammengehöriger Vorschriften in die sechs Bücher der Reichsversicherungsordnung die Vertrautheit der breiten Massen mit der ohnedies verwickelten Invalidenversicherung erschwert."

    Urteilte Paul Kaufmann, bis 1923 Präsident des Reichsversicherungsamtes, über die Reichsversicherungsordnung von 1911 - ein 1805 Paragrafen umfassendes Monster, das eigentlich geschaffen worden war, um alles einfacher zu machen. Die Reichsversicherungsordnung sollte die unter Bismarck getrennt eingeführte Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung zumindest rechtlich zusammenfassen. Eckart Reidegeld, Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Dortmund:

    "Diese Versicherung unter Bismarck, die folgte keinem einheitlichen Plan, keinen Prinzipien, es war eine Kette von Kompromissen zwischen Regierung Parlament und gesellschaftlichen Kräften."

    Das hatte zur Folge, dass das Sozialversicherungswesen extrem zersplittert war.

    "Es gab unterschiedliche Versichertenkreise. Es gab eine Vielzahl von Sozialleistungsträgern. Es gab 23.279 Krankenkassen und davon hatten viele nur ein bis fünf Mitglieder."

    Im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens hatten die Sozialdemokraten versucht, noch einmal die große Lösung ins Spiel zu bringen: die selbstverwaltete Einheitsversicherung der Beschäftigten. Sie scheiterten, weil die Mehrheit des Parlamentes die berufsständischen, kirchlichen und lokalen Verbände ebenso erhalten wollte wie die starke Beteiligung des Staates daran.

    "Das ist nicht zwingend so. Man könnte sich auch Institutionen in der Selbstverwaltung oder Institutionen der Selbsthilfe vorstellen, das hat in Deutschland so nicht geklappt. Der Staat hatte eine lange obrigkeitsstaatliche Tradition und hat das nicht zugelassen."

    Ziel des Staates war es zudem, die sozialdemokratischen Funktionäre wieder aus den Einrichtungen der Sozialversicherung zu drängen. Die hatten in den Ortskrankenkassen erheblichen Einfluss gewonnen, da die Arbeiterschaft dort über die Mehrheit der Stimmen in den Vorständen verfügte. Das müsse sich ändern, forderte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg am 10. Dezember 1910 vor dem Reichstag:

    "Wie Ihnen bekannt ist, verfolgen die verbündeten Regierungen mit Nachdruck das Bestreben, unsere sozialpolitischen Einrichtungen davor zu sichern, dass sie nicht zu Werkzeugen sozialdemokratischer Machtpolitik gemacht werden."

    Der hessische SPD-Abgeordnete Eduard David entgegnete ihm:

    "Der Angriff auf die Mitglieder der sozialdemokratischen Partei in den Arbeiterkrankenkassen ist zunächst von dem Standpunkt zurückzuweisen, dass auch der Sozialdemokrat so gut wie jeder andere das Recht hat, Ämter irgendwelcher Art zu beanspruchen. Er ist aber zweitens zurückzuweisen angesichts der segensreichen Tätigkeit, die die sozialdemokratischen Mitglieder dieser Krankenkassenvorstände entfaltet haben."

    Tatsächlich boten die Ortskrankenkassen der Arbeiterschaft eine bessere Versorgung als andere Kassen. Zugleich waren sie ein Vehikel, um lokale Sozialpolitik zu machen.

    "Die RVO sollte diese Aktivitäten der Sozialdemokratie ausbremsen - durch veränderte Bestimmungen in der Selbstverwaltung. Deshalb bezeichneten die Sozialdemokraten die RVO auch als Sozialistengesetz in Kassenpackung."

    Doch der Protest der Sozialdemokraten verpuffte in den 117 Sitzungen des zuständigen Reichstagsausschusses. Die am 31. Mai 1911 mit 232 gegen 58 Stimmen beschlossene Reichsversicherungsordnung legte fest, dass Maßnahmen der Ortskrankenkassen fortan stets die Zustimmung der Vertreter der Versicherten und der Unternehmer benötigten. Doch ein paar Fortschritte brachte das neue Gesetz auch aus sozialdemokratischer Sicht. Eckart Reidegeld:

    "Es wurde die Zahl der Krankenkassen reduziert, einige Tausend Träger fielen weg. Es wurden die Versichertenkreise harmonisiert und erweitert und es gab eine ungünstig ausgestaltete Absicherung der Witwen, Witwer und Waisen. Das fehlte bei der Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung."

    Am 19. Juli 1911 setzte der Kaiser die Reichsversicherungsordnung mit seiner Unterschrift in Kraft. Ein sozialgeschichtlicher Meilenstein war sie nicht. Für die Rechts- und Verwaltungsgeschichte war sie jedoch von größter Bedeutung, schließlich wurde sie erst 1976 schrittweise vom Sozialgesetzbuch abgelöst und gilt in Teilen bis heute.