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Einigung um Idlib zwischen Türkei und Russland
Perthes: Die stärksten Akteure haben sich bewegt

Syrien-Experte Volker Perthes wertet die Einigung Russlands und der Türkei auf die Schaffung einer demilitarisierten Zone in der Provinz Idlib als Erfolg der internationalen Diplomatie. Die syrische Regierung sei allerdings nicht Teil des Abkommens, sagte er im Dlf. Damaskus könne die Umsetzung noch verhindern.

Volker Perthes im Gespräch mit Philipp May | 18.09.2018
    Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, posiert am 30.09.2015 in Berlin.
    Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Volker Perthes, (dpa / picture alliance / Klaus-Dietmar Gabbert)
    Philipp May: Es ist eine Atempause für die Menschen in Idlib. Der Sturm auf die letzte syrische Rebellenhochburg durch Assads Regierungstruppen ist vorerst abgewendet. Gestern Abend haben sich in Sotschi Russlands Präsident Putin und Türkeis Staatschef Erdogan auf die Schaffung einer Schutzzone geeinigt.
    Am Telefon ist jetzt der Syrien-Experte und Leiter der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes. Guten Morgen!
    Volker Perthes: Schönen guten Morgen, Herr May.
    May: Hat Erdogan ein Blutbad verhindert?
    Perthes: Ich glaube, beide zusammen. Russlands Präsident und der türkische Präsident haben eine Offensive abgewendet, haben zeitweise zumindest dafür gesorgt, dass Leute aufatmen können, und das Blutbad, das alle befürchtet haben, findet zumindest unmittelbar nicht statt.
    May: Wer hat sich denn jetzt wie bewegt?
    Perthes: Entschuldigung!
    May: Wer hat sich denn jetzt wie bewegen müssen?
    Perthes: Es haben sich beide bewegt. Russland hat sich bewegt und muss jetzt noch – das ist ja auch von Ihrem Korrespondenten gesagt worden – die syrische Regierung bewegen, die hier nicht Teil der Vereinbarung war und ist bisher.
    "Es bleibt russisches Ziel, dass Idlib zurück unter Regierungskontrolle fällt"
    May: Aber kann die was machen ohne Russland?
    Perthes: Nun, sie kann es zumindest unmöglich machen, dieses Abkommen zwischen Russland und der Türkei umzusetzen, selbst wenn sie alleine und ohne russische Hilfe aus der Luft nicht in der Lage wäre, die Provinz Idlib zurückzuerobern und unter ihre Kontrolle zu bringen. Und es bleibt russisches Ziel, dass früher oder später Idlib zurück unter Regierungskontrolle fällt. Aber erst mal hat man sich bewegt und gesagt, die Offensive wird abgesagt – sehr klar in den Worten des Verteidigungsministers Schoigu.
    Die Türkei hat sich auch bewegt. Sie hat zugestimmt, dass die von ihr unterstützten Rebellen schwere Waffen abgeben, dass strategische Verbindungen durch die Provinz Idlib - das sind vor allem zwei Autobahnen – wieder für den Verkehr zwischen regierungskontrollierten Gebieten geöffnet werden, das heißt nach und nach unter Regierungskontrolle fallen werden. Und sie hat gewissermaßen von Putin das Problem zugeschoben bekommen, nun selbst mit den radikalsten und terroristischsten Elementen, die sich in der Provinz Idlib befinden, umzugehen. Die sogenannte Nusra-Front insbesondere - das sind 10.000 sehr radikale terroristische Kämpfer - werden jetzt in den nächsten Wochen nicht aus der Luft bombardiert werden voraussichtlich. Aber die Türkei hat sich auf die Fahnen geschrieben, die Existenz dieser Gruppe zu beenden, und wie sie das tut, wird man sehen.
    Verantwortung für Dschihadisten an Türkei weitergereicht
    May: Beim letzten Treffen in Teheran Anfang des Monats hat es ja noch keine Annäherung gegeben zwischen Russland und der Türkei. Was ist jetzt anders?
    Perthes: Ich würde sagen, der Problemdruck ist sehr viel größer geworden. Internationale Diplomatie hat auch eine Rolle gespielt. Das Drängen vieler internationaler Organisationen, einschließlich der Vereinten Nationen, doch hier eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Das Vierertreffen auch Russlands, der Türkei, Deutschlands und Frankreichs. Alles das hat zusammengespielt, um Putin und Erdogan letztlich dazu zu bewegen zu sagen, wir sind die stärksten Akteure, die stärksten externen Akteure hier auf syrischem Gebiet und wir müssen etwas tun.
    May: Sie haben es gerade schon angesprochen. Was passiert denn jetzt mit den islamistischen Kämpfern, wenn die abziehen? Die will ja weder Assad, noch die Türkei.
    Perthes: Nun, zuerst werden sie ein Stück weit nach Norden in das Gebiet, über das die Türkei ihre schützende Hand gewissermaßen hält, gedrängt werden, und die Türkei hat, ohne dass hier in Details gegangen zu sein scheint bisher, zugestimmt, dass sie diese radikalsten Elemente - das sind etwa 10.000, 12.000 von insgesamt vielleicht 65, 70.000 bewaffneten Kämpfern in diesem Gebiet -, dass sie die trennen wird. Und trennen - das ist ein bisschen ein Synonym dafür zu sagen, man wird ihnen verbieten, sich unter die Zivilisten zu mischen. Man macht sie damit auch leichter zu treffen, etwa durch Luftangriffe oder durch Artillerieangriffe. Oder man kümmert sich selbst darum. Bei einem Teil davon hat man gesehen in den letzten Wochen, dass etwa eine Reihe der Führer dieser radikalsten Organisationen ums Leben gekommen sind durch Bombenangriffe, erschossen worden sind und Ähnliches. Einigen wird man sicherlich auch ihren Schneid abkaufen können oder ihre politische Überzeugung, indem man ihnen finanzielle oder andere Privilegien zusichert, damit sie ihre politische Überzeugung an die Seite legen und die Waffen abgeben.
    May: Aber die, die radikal bleiben, die machen das ja nicht so ohne weiteres mit.
    Perthes: Nein. Es wird einen harten Kern geben von radikalstem und, hier muss man wirklich sagen, terroristischem Widerstand, und das sind nicht in erster Linie, dazu gehören auch Syrer, aber es sind nicht in erster Linie Syrer, sondern es geht hier im ganz harten Kern um etwa 2000 plus-minus ausländischer Elemente, die zu Al-Kaida oder der mit ihr verbündeten Nusra-Front gehören. Da sind ganz viele, wahrscheinlich tatsächlich bis zu 2000 russischsprachige Elemente drunter; auf die schaut Russland ganz besonders und hat immer wieder in den letzten Monaten deutlich gemacht, dass Russland nicht erlauben wird, dass diese 2000 Personen zurück nach Russland oder in die ehemaligen Gebiete der Sowjetunion kommen. Anders gesagt: Russland sagt, mit diesen Elementen muss die Türkei umgehen, oder sie müssen getötet werden.
    "Türkei hat eine selbsternannte Schutzzone"
    May: Okay. Angenommen Russland und die Türkei schaffen es tatsächlich, diese islamistischen Kämpfer im Norden irgendwo zu konzentrieren, dann ist Idlib demilitarisiert. Ist das eine andere Qualität dann als eine Deeskalationszone, in die Assad ja nach und nach dann immer eingedrungen ist, wenn er vorher eine Deeskalationszone hatte?
    Perthes: Es ist eine andere Qualität des Vorgehens. Ja, ich glaube und denke - mit Aussagen über die Zukunft soll man ja vorsichtig sein. Aber ich denke, dass das Ergebnis in einigen Monaten nicht sehr viel anders sein wird, dass graduell nach und nach die Kontrolle der syrischen Regierung in Damaskus über die Provinz Idlib wiederhergestellt werden wird, minus möglicherweise eines Grenzstreifen, also einer Pufferzone an der türkischen Grenze, nicht an der derzeitigen Kontaktlinie zwischen Regierung und Rebellen, wie jetzt vereinbart in Sotschi, sondern an der türkischen Grenze.
    May: Damit keine Flüchtlinge mehr weiter in die Türkei kommen können.
    Perthes: Damit weder Flüchtlinge, noch Terroristen in die Türkei eindringen. Die Türkei hat ja auch eine ähnliche, selbsternannte Schutz- und Pufferzone an anderen Teilen der syrischen Nordgrenze bereits eingerichtet, in Afrin und in der Region zwischen Afrin und dem Euphrat.
    May: Das heißt, die Zivilisten sind jetzt tatsächlich vorerst sicher? Es könnte tatsächlich sein, dass es den Sturm auf Idlib gar nicht geben wird, überhaupt nicht?
    Perthes: Ich denke und ich hoffe, dass es den Sturm auf Idlib nicht geben wird. Aber die Differenzen und die Probleme auch zwischen der Türkei und Russland bleiben natürlich.
    May: Dass Russland überhaupt jetzt Kompromisse macht, ist ja das erste Mal. Ist das auch ein Zeichen der Schwäche Putins?
    Perthes: Ich glaube, es ist eher ein Zeichen für die Stärke der internationalen Diplomatie. Es ist ja so: Auch Deutschland, auch Frankreich, auch die Vereinten Nationen haben ja in den letzten Wochen und Monaten nicht einfach gesagt, Putin macht hier die Dinge falsch, sondern haben sich mehr und mehr darauf eingelassen, mit der russischen Regierung zu reden und zu sagen, wir akzeptieren, dass es hier ein Problem gibt. Wir sehen das vielleicht anders, wir beschreiben das anders, aber es gibt Möglichkeiten, A - eine humanitäre Katastrophe zu verhindern. Und B -, was ja langfristig viel wichtiger ist: Selbst wenn ihr euer Kriegsziel durchsetzt und die Regierung in Damaskus wieder die volle Kontrolle über Idlib und andere Teile des Landes übernimmt, was können wir dann machen, um sicherzustellen, dass Syrien nicht wieder in die gleichen Fehler fällt wie vorher, wie kann man ein sicheres Umfeld herstellen.
    May: Herr Perthes, wir laufen leider auf die Nachrichten zu und müssen Schluss machen. Hoch interessant, mal wieder mit Ihnen zu sprechen. Volker Perthes, Syrien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik war das. Vielen Dank für das Gespräch.
    Perthes: Sehr gerne! Auf Wiederhören.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.