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Einigung und Sozialpolitik

Sie hatten genug. Aber sie wollten nicht fliehen, sondern die DDR von innen verändern. Ein grundlegender politischer Wandel sollte her. Vom Beginn der Montagsdemonstrationen bis zum Mauerfall beschreibt Gerhard A. Ritter. die Geschichte der Wiedervereinigung aus Sicht der Sozialpolitik.

Von Conrad Lay | 31.08.2009
    Kurz gefasste Übersichten über die deutsche Vereinigung gibt es inzwischen eine ganze Reihe. Wann sollte ein Leser gerade zu dem Bändchen des Historikers Gerhard A. Ritter greifen? Vor allem dann, wenn er etwas über die sozialpolitischen Hintergründe der Wiedervereinigung wissen will.

    Ritter gliedert das Buch in drei Teile: er widmet sich zunächst den internationalen Aspekten der deutschen Einigung, geht dann auf die Sozialpolitik ein - darin ist der Autor Experte - und streift schließlich noch die wirtschaftlichen und finanziellen Probleme der Vereinigung. Die Zeitzeugen, die der Autor befragt hat, sind ausnahmslos Sozialpolitiker oder Beamte verschiedener Arbeitsministerien. Die Wiedervereinigung war ohnehin - wie Gerhard A. Ritter zurecht schreibt - eine Stunde der Exekutive. Wenn man aber zusätzlich den Blick so verengt, wie es der Autor tut, dann gerät ausschließlich die Sicht der Exekutive bzw. der nachgeordneten Ministerialbürokratie in den Blick. Zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer ist das etwas dünn.

    Der Hauptakteur der Wiedervereinigung war nach Ansicht des Autors - so wörtlich - "das Volk der DDR". Das hätte man gerne etwas genauer gewusst; Ritter führt dann aus, das "Volk der DDR" sei durch die polnische Solidarnosc angeregt worden. Aber im Unterschied zur DDR hatte sich in Polen über Jahrzehnte eine oppositionelle Elite herausgebildet, die sich auch in Zeiten starker staatlicher Repression zu wehren wusste. In der DDR sah das deutlich anders aus: auf die relativ schwachen Bürgerbewegungen geht Ritter aber so gut wie gar nicht ein. Der Versuch einer eigenständigen DDR-Außenpolitik im Jahr 1990 unter Außenminister Markus Meckel wurde von den Westmächten ignoriert. Ritter eignet sich diese Sicht an und schreibt:
    Diese schlecht vorbereiteten Initiativen scheiterten und diskreditierten die neue DDR-Außenpolitik, die von den Diplomaten der Bundesrepublik und der Westmächte weitgehend als dilettantisch angesehen wurde.
    Dass auch DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière von Kanzler Helmut Kohl von oben herab behandelt wurde, schreibt Gerhard A.Ritter nicht, obwohl es das Bild vervollständigen würde. Auch den "Runden Tisch" des Herbstes 1989 ignorierte man in Bonn und wollte von seinen Ergebnissen, etwa einem Verfassungsentwurf, nichts wissen. Dieses Ost-West-Machtgefälle scheint auch in Ritters Beschreibungen der Exekutive durch.

    So wie die Wiedervereinigung angelegt war, sollten die Normen und Institutionen der alten Bundesrepublik im Gebiet der früheren DDR übernommen werden. Insbesondere im Bereich der Sozialpolitik führte das zu zahlreichen Ungereimtheiten. Die Hauptthese des Autors lautet deshalb: die Wiedervereinigung hat die latente Krise des deutschen Sozialstaates entscheidend verschärft. So hatte etwa die Rentenversicherung einen wesentlichen Teil der Kosten der Einheit zu tragen: sie musste für die Rentner in den Neuen Ländern aufkommen, obwohl sie diese Kosten nicht durch eigene Einnahmen decken konnte. Ob Polikliniken oder Kinderbetreuung - der Osten sollte das Modell des Westens übernehmen, auch wenn es im Einzelnen sachliche Gründe gegeben hätte, im Gesundheitswesen und der Familienpolitik den eingeschlagenen Weg fortzusetzen. Nachdem der Autor dies dargestellt hat, fügt er lapidar hinzu:

    In der Familienpolitik kam es später in Gesamtdeutschland besonders durch die Förderung der Erwerbstätigkeit von Müttern zur Übernahme einzelner Elemente der DDR-Sozialpolitik. So wurde ein Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz durchgesetzt und der flächendeckende Ausbau von Kinderkrippen beschlossen.
    In das Muster der deutschen Wiedervereinigung passt das nicht, und so sieht es nachträglich so aus, als ob ausgerechnet Familienministerin Ursula von der Leyen die Tradition der DDR-Sozialpolitik hochhalte.

    In der Wirtschaftspolitik kommt der Autor zu ähnlichen Schlussfolgerungen wie in der Sozialpolitik: Die Maßnahmen seien unausweichlich, wenn auch hochproblematisch gewesen. Die Finanztransfers vom Westen in den Osten mussten zu einem guten Teil die westdeutschen Beitragszahler der Sozialversicherungen aufbringen. Zur Begründung schreibt der Autor:

    Das Bundesfinanzministerium zog die relativ geräuschlose und damals politisch leichter durchsetzbare Erhöhung von Sozialversicherungsbeiträgen den notwendig mit scharfen politischen Spannungen gerade auch in der Regierungskoalition verbundenen Steuererhöhungen vor.
    So spricht vieles dafür, dass die politisch Verantwortlichen bei der Wiedervereinigung zwar außenpolitisch viel wagten, aber innenpolitisch den Mut nicht aufbrachten, Klartext zu reden, sondern sich und die Bürger in der Illusion wogen, ein neues Wirtschaftswunder stünde kurz bevor. Die entsprechende Sichtweise von Exekutive und Ministerien stellt Gerhard A. Ritter kenntnisreich vor. Wer sich für die sozialpolitischen Aspekte der Wiedervereinigung interessiert, ist mit dem Bändchen aus der Beckschen Reihe gut bedient.

    Gerhard A. Ritter ist der Autor des Buches " Wir sind das Volk! Wir sind ein Volk – Geschichte der deutschen Einigung". Heute in der Beckschen Reihe des C.H. Beck-Verlages erschienen, 191 Seiten kosten 12 Euro 95. Gelesen und vorgestellt von Conrad Lay.