Freitag, 19. April 2024

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Einschätzung zum Brexit-Streit
Chancen auf Deal zwischen May und Corbyn "noch nicht so weit entwickelt"

Die britische Premierministerin Theresa May will nun doch mit Oppositionsführer Jeremy Corbyn über eine Verschiebung des Brexit verhandeln. Der ehemalige Deutsche Welle-Korrespondent Grahame Lucas sagte im Dlf, nicht nur May sei unter Druck. Auch bei Labour sehe er Spaltungstendenzen.

Grahame Lucas im Gespräch mit Martin Zagatta | 03.04.2019
Ein Anti-Brexit-Demonstrant hält Plakate von May und Corbyn in den Händen
Ein Anti-Brexit-Demonstrant mit den Köpfen von May und Corbyn: Jetzt könnte Bewegung in den Streit kommen (www.imago-images.de / Victor Szymanowicz)
Martin Zagatta: Mitgehört hat der Journalist und Publizist Grahame Lucas. Er ist gebürtiger Brite, war lange für die Deutsche Welle tätig. Guten Tag, Herr Lucas!
Grahame Lucas: Ich grüße Sie!
Hoffnung, Labour-Abgeordnete herüberzuziehen
Zagatta: Herr Lucas, wie sehen Sie das jetzt? Ist das, was May nun angekündigt hat, tatsächlich eine Kehrtwende und ein Ausweg?
Lucas: Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, sie hat jetzt zumindest beschlossen – gestern gab es eine sehr lange Kabinettssitzung – auszuloten, wo sie vielleicht noch 25 bis 30 Stimmen bekommt, um ihren Deal durchzusetzen. Es ist ein Ausloten gegenüber Labour, in der Hoffnung, dass sie Labour-Abgeordnete herüberziehen könnte. Aber Jeremy Corbyn, wie wir gerade gehört haben, hat den Preis genannt, nämlich eine Zollunion mit Elementen des Binnenmarktes als Lösung, und das bringt heute Morgen quasi ihre Hardliner, die Hardliner um Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg auf die Palme. Es wird gefordert, dass Frau May zurücktritt. Es wird ihr vorgeworfen, sie habe den Brexit verraten, und so weiter und so weiter. Wir sehen bei ihr deutliche Spaltungstendenzen, aber auch bei Labour. Wenn Corbyn tatsächlich die Forderung nach einem zweiten Referendum fallen lässt, könnten wir auch Spaltungstendenzen bei Labour sehen.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Mehr Beiträge zum Brexit finden Sie in unserem Portal „Countdown zum Brexit“ (AFP / Tolga Akmen)
Zagatta: Das hieße, die Tories wären gespalten, die Partei der Premierministerin, weil die nicht mitziehen will. Die Labour-Partei unter Umständen, wie Sie das schildern, dann ganz genauso, weil die sich offenbar auch nicht einig ist. Kann das dann eine Mehrheit ergeben für den Vertrag?
Lucas: Das ist natürlich die ganz große Frage. Denkbar ist es, aber natürlich jeder überlegt sich in diesem sehr schwierigen Schachspiel ganz genau, was der nächste Zug ist. Denn Jeremy Corbyn muss sich sehr wohl darüber im Klaren sein, wenn er seine Parteibasis spaltet - und es heißt ja, dass 70 Prozent ein zweites Referendum wollen -, dann wird er bei einer vorgezogenen Unterhauswahl untergehen. Er wird verantwortlich dafür gemacht, dass er den Brexit ermöglicht hat, und das ist jetzt sein Dilemma.
Deal May-Corbyn "noch nicht so weit entwickelt"
Zagatta: Wenn er gesagt hat – Sie haben das eben auch noch einmal zitiert -, es müsse eine Zollunion geben, die Arbeitnehmerrechte müssten gewahrt werden, hieße das im Gegenzug nicht auch, es müsste bei der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern bleiben, die die Regierung, die das britische Regierungslager ja auf keinen Fall wollte?
Lucas: Zumindest habe ich von Jeremy Corbyn nicht gehört, dass er das Wort "Norwegen" in den Mund nimmt. Das Norwegen-Modell würde ja auch die Personenfreizügigkeit beinhalten und dann hätten wir tatsächlich eine Situation, würde die Frau May darauf eingehen, was ich nicht glaube, dass man im Grunde genommen beim Brexit die politischen Mitspracherechte und das politische Dabeisein aufgibt und nur, wie die Engländer sagen, ein Roletaker wird. Man muss gehorchen, was die EU macht, aber hat keinen Einfluss. Ich glaube nicht, dass das für irgendeine Partei akzeptabel ist. Deswegen hat Corbyn auch immer wieder mal gesagt: Ja, Zollunion und Elemente des Binnenmarktes. Nur: Das Problem dabei ist, dass die EU ihm das nicht geben wird. Die werden das als Rosinenpickerei verstehen. Deswegen ist, sagen wir mal, die Chancen auf diesen Deal zwischen May und Corbyn, würde ich sagen, noch nicht so weit entwickelt.
Probeabstimmungen für einen Vorschlag
Zagatta: Wie muss man sich das jetzt in der Praxis vorstellen? Wenn ich Frau May richtig verstanden habe, dann sagt sie jetzt, trotz aller Verhandlungen muss das Unterhaus, müsste dann jetzt die Labour-Partei, die sie gewinnen will, dem Vertrag zustimmen, den sie dann ein viertes Mal wohl vorlegen würde. Und alles andere, was da jetzt verhandelt wird, das wäre keine Vertragsänderung, sondern das käme in eine politische Erklärung hinein. Ist das überhaupt praktikabel?
Lucas: Das ist wirklich eine Frage, wieweit die EU nachgeben will in dieser Sache. Ich denke, was jetzt unmittelbar bevorsteht ist, dass wir morgen weitere Probeabstimmungen haben werden. Die Regierung hat heute Morgen interessanterweise angedeutet, dass sie Ergebnisse von Probeabstimmungen morgen, wenn sie tatsächlich Mehrheiten bekommen, respektieren könnte und in einen Vorschlag eingießen würde dann für die EU, was Frau May vermutlich im Vorfeld des Gipfels am 10. April vorstellen würde. Dann ist der Ball wieder bei der EU, ob sie dann akzeptieren würden, ob sie sagen würden, ja okay, das geht jetzt schon in die richtige Richtung. Aber das ist dann wirklich eine Frage, wo die EU in sich gehen muss, um zu überlegen, wie lange sie dieses Theaterstück in London noch dulden will.
Gift für die Hardliner um Johnson und Rees-Mogg
Zagatta: Wie sehen Sie das Nordirland-Problem, das bisher ja das große Hindernis war? Das wäre abgeräumt, wenn man sich dafür entscheidet, in irgendeiner Form in der Zollunion zu bleiben?
Lucas: Ja, absolut! Man hat den Backstop quasi nur, weil man nicht weiß, was danach kommt, ob Großbritannien dann freie Handelsabkommen mit anderen Staaten schließt und so weiter und so weiter. Wenn Großbritannien in der Zollunion oder einer Zollunion bleibt oder bliebe, dann hätte man gar kein Problem mehr mit dem Backstop. Die Grenze würde ja offen bleiben und alle wären zufrieden. Aber dies ist natürlich Gift für die Hardliner um Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg, weil sie die Souveränität Großbritanniens da eingeschränkt sehen, denn als Mitglied der Zollunion könnte Großbritannien die Freihandelsabkommen in aller Welt nicht schließen. Das ist ja auch eine Kernforderung vom Brexit. Wenn man diese Forderung wegnimmt vom Brexit, diese Vision, dann kann man den Brexit wirklich vergessen, und das hatte ja Boris Johnson auch neulich gesagt. Er sagte, bei so einem Deal können wir drin bleiben.
Mehrheit will nicht ohne Abkommen ausscheiden
Zagatta: Herr Lucas, das klingt ja alles noch fürchterlich kompliziert. Glauben Sie, dass das, dieses jetzt auszuhandeln in London, was da alles noch so unklar ist, dass das bis zur nächsten Woche, wo man sich wieder mit der EU treffen will, wo es diesen Sondergipfel geben soll, überhaupt zu bewerkstelligen ist?
Lucas: Politik ist die Kunst des Möglichen und ich denke schon, dass das im beiderseitigen Interesse ist, dass sowohl die Briten, schon die vernünftigen Mitglieder des Unterhauses – und das ist ja eine deutliche Mehrheit – nicht ohne Abkommen ausscheiden wollen. Heute gibt es wieder einen Gesetzesvorstoß von den Abgeordneten Lasbin und Cooper, die das ja in ein Gesetz eingießen wollen, um das zu verhindern. Aber natürlich will man eine Lösung. Die Frage ist, wieviel Zeit ist noch übrig. Ich denke, da ist noch genug Zeit. Wir sind vielleicht in der Sprache des Fußballs in der Verlängerung und ein Elf-Meter-Schießen droht, aber noch ist ein bisschen Zeit da.
Zagatta: Die Briten sind ja schlecht beim Elf-Meter-Schießen – die Engländer, muss man sagen. Aber Sie sind optimistisch, ja?
Lucas: Ich glaube, ganz am Anfang dieser Verhandlungen sollte man sich daran erinnern, dass die Brexiteers erzählt haben, das wird bis zum letzten Augenblick gehen und dann wird die EU einknicken. Es wird bis zum letzten Augenblick gehen, aber ich fürchte, da werden die Briten einknicken.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.