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"Eisbrecher" einer neuen Ostpolitik

Sie wirken wie eine Vorhut der ab 1969 von Willy Brandt betriebenen Ostpolitik: Am 24. Februar 1962 ließen acht Protestanten das "Tübinger Memorandum" verbreiten. Darin forderten sie unter anderem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.

Von Peter Hölzle | 24.02.2012
    "Die deutsche Position in der gegenwärtigen Krise wurde dadurch geschwächt, dass wir an Ansprüchen festgehalten haben, die auch bei unseren Verbündeten keine Zustimmung finden. Wir sagen nichts Neues, wenn wir die Absicht aussprechen, dass zwar die Freiheit der in Berlin lebenden Menschen ein von der ganzen Welt anerkanntes Recht ist, dass aber das nationale Anliegen der Wiedervereinigung in Freiheit heute nicht durchgesetzt werden kann und dass wir den Souveränitätsanspruch auf die Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie werden verloren geben müssen."

    Als diese Sätze am 24. Februar 1962 in der "Frankfurter Allgemeinen" und anderen großen Tageszeitungen erschienen, lösten sie ein zwiespältiges Echo aus, das noch am 14. März zu hören war. Da nämlich dokumentierte der Rundfunksender RIAS den Wortlaut, aus dem hier zitiert wird. Die Rede ist von einer Denkschrift, die als das "Tübinger Memorandum der Acht" einer der ersten Versuche war, die deutsche Außenpolitik mitten im Kalten Krieg aus der Erstarrung gegenüber den östlichen Nachbarn zu befreien. Dieser frühe "Eisbrecher" einer neuen Ostpolitik wurde von evangelischen Theologen und Laien gesteuert, die dem gerade wiedergewählten Kanzler Konrad Adenauer und den ihn stützenden Parteien CDU, CSU und FDP eine "osteuropäische" Alternative zu ihrer mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 und der folgenden Berlin-Krise gescheiterten "Status-quo" Politik anboten.

    " ... Zu Beginn einer Wiederherstellung des Vertrauens wird ein Bündel von Maßnahmen nötig sein, zu denen gehören können: materielle Wiedergutmachung, Nichtangriffspakte und etwa die Aufforderung an Warschau, rückkehrwilligen Deutschen die Rückkehr in die Heimat zu gestatten."

    Unter den weitblickenden Protestanten, die sich im Rückblick wie eine Vorhut der ab 1969 ernsthaft Ostpolitik betreibenden sozialliberalen Regierung von Willy Brandt und Walter Scheel ausnehmen, war viel gegenwärtige und zukünftige Prominenz: der später als Bildungsforscher bekannt gewordene Hellmuth Becker, der Intendant des Westdeutschen Rundfunks, Klaus von Bismarck, die Atomphysiker Werner Heisenberg und Carl-Friedrich von Weizsäcker, schließlich der Religionsphilosoph Georg Picht und der Tübinger Ordinarius für öffentliches Recht, Ludwig Raiser. Was diese "Tübinger Acht" zu ihrem "Memorandum" bewogen hatte, sagte von Bismarck im RIAS am 14. März 1962:

    "Die Frage ist, ob nicht auch durch ein solches Zeichen der Bereitwilligkeit, Vergangenes zu bereinigen, jedenfalls im polnischen Volke eine Offenheit ausgeweitet werden kann. Und von daher erschien es uns wichtig, dass das polnische Volk weiß, es ist einfach unwahr, dass sich hier in der Bundesrepublik eine Herde von Revanchisten sammelt, die nun geschlossen zurückstürmen wollen in die alten Gebiete."

    Und sein Mitautor, der Jurist Ludwig Raiser, ergänzte im selben Gespräch ganz unjuristisch:

    "Ich glaube, dass es Zeit wäre für uns, darüber nachzudenken, ob dieses unsägliche Leid, das die Deutschen den Polen, die Polen den Deutschen angetan haben, nun ins nächste Jahrhundert hinein fortgesetzt werden soll, ob es nicht einmal eine Möglichkeit geben sollte zu einem Ausgleich, indem man nicht vom Rechthaben spricht, sondern von den Möglichkeiten, zusammen weiterzuleben und zusammen sich als Völker zu respektieren."

    Diese auf Versöhnung abzielende Argumentation lehnten die christlichliberalen Regierungsparteien entschieden ab. Einer der ihren, Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier, begründete dies mit einer damals verbreiteten Sorge:

    "Wenn man es täte, dann gebe ich aber mindestens zu erwägen, ob dann nicht in einigen Jahren der Westen eines Tages sagen würde, 'ach wissen Sie mit der Wiedervereinigung Deutschlands, das heißt: mit den siebzehn Millionen, das haben nun einmal die Russen - nicht wahr - als Kriegsbeute. Also Strich drunter, abschreiben.' Dann wird nicht nur an der Oder-Neiße-Linie der Strich gemacht, sondern dann könnte es geschehen, dass der zweite Strich dann auch an der Elbe gemacht wird."

    Neben dieser Sorge bestimmte das Regierungslager ein Kalkül. Warum nur um der Vertrauensbildung willen deutsche Gebiete östlich von Oder und Neiße aufgeben, wo doch die endgültige deutsche Ostgrenze einem Friedensvertrag vorbehalten sein sollte? Dass ein solcher oder jedweder andere Vertrag dermaleinst den Verzicht auf die deutschen Ostgebiete voraussetzen würde, war freilich 1962 im Bundestag noch keine mehrheitsfähige Erkenntnis.