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Eiserner Vorhang
Forscher untersuchen Todesfälle von DDR-Flüchtlingen

Elektrozäune, Minen und Grenzsoldaten sollten sicherstellen, dass Bürger der DDR nicht ihr Land verlassen konnten. Dennoch versuchten immer wieder Menschen zu fliehen - und bezahlten das mit ihrem Leben. Forscher beschäftigen sich nun mit gescheiterten Fluchtversuchen entlang des Eisernen Vorhangs.

Von Isabel Fannrich-Lautenschläger | 31.01.2019
Blick auf original erhaltene Grenzanlagen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze bei Sorge (Sachsen-Anhalt). Nach dem Wende-Herbst in der DDR hat die Gemeinde Sorge einen Teil der Grenzanlagen erhalten. Jahr für Jahr kommen Schaulustige, um sich die einstigen Sperranlagen anzusehen. Die DDR-Grenztruppen kontrollierten im Bereich Sorge einen 13 Kilometer langen Grenzabschnitt.
Die innerdeutsche Grenze wurde immer stärker abgesichert, sodass sie kaum noch überwunden werden konnte (picture alliance / dpa / Matthias Bein)
Kurz nach dem Abitur versuchte Hartmut Tautz am 8. August 1986 über die tschechische Grenze nach Österreich zu fliehen. Die Hunde der Grenzsoldaten bissen ihn zu Tode. Die Prager Stiftung "European Memory and Conscience" hat den Fall vor Gericht gebracht. Aktuell wird er von der bayerischen Staatsanwaltschaft untersucht, berichtet Aufsichtsratsmitglied Miroslav Lehky und verweist auch auf die weniger bekannten Fälle von DDR-Bürgern, die beim Fluchtversuch an den Grenzen der früheren CSSR getötet wurden, zum Beispiel den des 38-jährigen Gerhard Schmidt:
"Im Jahr 1977 hat Herr Schmidt mit seiner Frau und drei Kindern versucht, die Grenze nach Bayern zu übertreten. Und er hat diese Drahtsperre zerschnitten, und er war erschossen vor den Augen seiner Frau und drei Kinder, die waren damals fünf, sieben und neun Jahre alt. Was ist brutal in diesem Fall, die Grenzsperre war mehr als 1.800 Meter von der Grenze entfernt auf dem tschechoslowakischen Gebiet. Es war möglich, diese Familie festzunehmen, zum Beispiel mit dem Hund."
Grenzsoldaten griffen schnell zur Waffe
An den tschechoslowakischen Grenzen zu Österreich und Bayern sollen zwischen 1948 und 1989 mehr als 320 Menschen ums Leben gekommen sein. Darunter Slowaken, Tschechen, aber auch Bürger aus Polen, Ungarn und der DDR. Allerdings gab es auch 13 bayerische Opfer, erzählt Miroslav Lehky. Die tschechoslowakischen Grenzsoldaten hätten in einigen Fällen mehrere hundert Meter ins benachbarte Gebiet hinein geschossen.
"Es ist möglich, mindestens 280 Leute, also diese Fälle mit Urkunde zu belegen. Und dazu gehören 13 Flüchtlinge aus der DDR und 13 dieser Opfer von Bayern."
Nach der ersten Studie zu den tödlichen Fluchtversuchen an der innerdeutschen Grenze untersuchen Historiker vom Forschungsverbund SED-Staat mit Kollegen der Universitäten in Greifswald und Potsdam nun die gescheiterten Fluchtversuche am Eisernen Vorhang und über die Ostsee. Der Historiker Dr. Jochen Staadt:
"Es gibt bisher keine validen Zahlen, es gibt bisher alle möglichen Angaben, Schätzungen, Listen verschiedener Institutionen. Beispielsweise bei der Untersuchung der tschechischen Grenze tauchen auch die Behauptungen auf bei Namen, das seien Agenten gewesen, die die Grenzen überschreiten wollten. Das kann aber auch einfach ein Vorwand sein, um solche Fälle zu kaschieren. Das muss man sich genau angucken. Sicher ist, dass es in den Anfangszeiten – ähnlich wie an der innerdeutschen Grenze – diese Fälle gab, dass Leute die Grenze nicht akzeptiert haben, weil sie es gewohnt waren, sich über die Grenze zu bewegen, selbst aus dem Grenzland vielleicht kamen. Und in der Anfangszeit waren es eben keine Flüchtlinge."
Entwicklung der Grenzsicherung
Ähnlich wie im Vorgängerprojekt soll das Schicksal der Menschen rekonstruiert werden, die an den Grenzen der osteuropäischen Nachbarländer ums Leben kamen. Viele hatten versucht, über die CSSR und Bulgarien zu fliehen. Manche wollten über Rumänien nach Jugoslawien kommen. 1989 schwammen mehrere junge Ostdeutsche durch die Oder, um in die Warschauer Botschaft zu gelangen.
Außer den Fluchtgründen und -routen wollen die Wissenschaftler gemeinsam mit den osteuropäischen Kollegen beleuchten, wie sich der Eiserne Vorhang von 1949 bis zur Öffnung der ungarischen Grenze im Sommer 1989 verändert hat. Wie wurden die Grenzen zwischen der DDR und den Nachbarländern Polen und Tschechoslowakei, wie die der anderen Ostblockstaaten etwa durch Minen, Elektrozäune oder gar den Schießbefehl gesichert?
Für Jochen Staadt ist klar, "dass ab einer bestimmten Zeit, als die innerdeutsche Grenze vermint, abgeriegelt, die Berliner Mauer stand, es DDR-Bürger gab, die glaubten, dass man zum Beispiel über die bulgarisch-griechische Grenze leichter in den Westen gelangen könnte oder auch über die tschechische Grenze nach Bayern oder Österreich. Das war ein großer Irrtum. Denn diese Grenzen waren genauso gesichert, zum Teil vermint, zum Teil mit Elektrozäunen. An der bulgarisch-griechischen Grenze standen die Schilder in deutscher Sprache."
Beispiel Ungarn: Weil das Grenzgebiet zu Österreich nach der Revolution 1956 so stark vermint war, dass es häufig zu Unfällen kam, wurde ab 1972 stattdessen eine elektrische Grenzanlage montiert, berichtet Dr. Krisztina Slachta von der Andrassy Universität in Budapest. Die Todesfälle an den Grenzen seien allerdings bislang nicht systematisch erforscht. Deutsche Kollegen hätten auf vier Fälle in den 80er Jahren hingewiesen.
"Ein Fall ist bekannt. Das war nach dem paneuropäischen Picknick am 21. August im österreichischen Grenzgebiet bei Köszeg passiert. Da war eine Flüchtlingsfamilie praktisch von den ungarischen Grenzsoldaten aufgehalten worden, und wegen mangelnden Sprachkenntnissen konnten sie sich einfach nicht verständigen. Die Grenzsoldaten wollten die Familie einfach ins Land zurückweisen und es kam zu Handgreiflichkeiten. Eine Waffe hat dann auch geschossen, und dadurch wurde dann der Vater so getroffen, dass er vor Ort schon gestorben ist. Das war '89."
Stasi ließ sich im Urlaubsland Ungarn nieder
Um eine geplante Flucht zu verhindern, hatte die DDR-Staatssicherheit sich in dem bei DDR-Bürgern beliebten Urlaubsland sogar niedergelassen – und beobachtete, was am Balaton vor sich ging. Über die Fluchtversuche selbst konnte Krisztina Slachta in den Unterlagen der kooperierenden Staatssicherheitsdienste allerdings keine Angaben finden.
Die Frage, wie die DDR mit den gefassten Flüchtlingen umging, untersucht Prof. Manfred Görtemaker von der Uni Potsdam für die gesamte Zeit von der Sowjetisch Besetzten Zone bis 1989/90.
"Es geht sowohl um das DDR-Justizministerium, als auch um die Gerichte und die Rechtsprechung. Das Recht, wie in allen sozialistischen Staaten, war immer eine Funktion der Partei beziehungsweise des Staates und insofern kann von einer Unabhängigkeit der Gericht nicht die Rede sein. Aber es gibt natürlich Unterschiede: In der Anfangszeit war man dort sehr viel rigider als in späteren Jahren."
Der Jurist, der die NS-Kontinuitäten im Bundesjustizministerium untersucht hat, konstatiert eine gespaltene Entwicklung. Die Grenze wurde immer stärker abgesichert, sodass sie kaum noch überwunden werden konnte. Zugleich setzte sich mit der Entspannungspolitik ein neues Verhältnis zum Westen durch, und die DDR musste sich stärker in die internationale Staatengemeinschaft einfügen.
1973 wurde sie Mitglied der UN und unterzeichnete zwei Jahre später die Schlussakte von Helsinki, die beide das Recht auf Ausreise festschreiben. Dass immer mehr Menschen in der DDR einen Ausreiseantrag stellten – auch diese Form, das Land zu verlassen, wollen die Forscher mithilfe von Akten und Zeitzeugen untersuchen.
"Also das Phänomen des Wegwollens nimmt zu und das gipfelt 1989. Und insofern ist es sehr interessant, wie die DDR, die ja als System auch auf ihre eigene Stabilität achten musste, damit dann tatsächlich umgeht."