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Eitler Blick zurück

Anfänglich lesen sich die Erinnerungen des Kunsthistorikers Werner Spies durchaus selbstkritisch. Für die jüngste Vergangenheit gilt das nicht. Seine Anmerkungen zum Skandal um die Beltracchi-Fälschungen, in den er selbst verwickelt ist, sind mehr als dürftig.

Von Stefan Koldehoff | 13.12.2012
    Es gab Erwartungen an dieses Buch – ganz allgemeine und ganz konkrete. Schließlich war Werner Spies einer der führenden Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Und einer, der es wie kein zweiter verstand und versteht, seinen Gedanken in großartigen Texten auch eine angemessene Form zu geben. Nur wenige Kunstpublizisten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten so um das Projekt Moderne verdient gemacht wie er, haben dabei schon europäisch gedacht, als dieses Wort noch vor allem wirtschaftlichen Überlegungen vorbehalten war. Als der Hanser Verlag vor Monaten die Lebenserinnerungen von Werner Spies ankündigte, wurde deshalb die Erzählung eines Zeitzeugen erwartet: Ein autobiografischer Bericht darüber, wie nach dem alles zerstörenden Zweiten Weltkrieg – den Werner Spies, Jahrgang 1937, selbst als Sohn eines Volksschuldirektors in Rottenburg erlebte – wieder ein Europa der Moderne entstanden ist. Wie es die Kultur und wie es einzelne Künstler vermochten, die Grenzen alter Feindschaften einzureißen und neue Werte zu setzen. Und wie Werner Spies als Vermittler dazu maßgeblich beitrug.

    Erwartet wurde aber auch, dass Werner Spies in seinen Memoiren offen Stellung zu dem nehmen würde, was seinem Ruf in den vergangenen zwei Jahren massiven und nachhaltigen Schaden zugefügt hat: Zu jenem spektakulären Fall um den Kunstfälscher Wolfgang Beltracchi, in den auch Spies verwickelt ist. Schließlich musste der Kunstkenner öffentlich eingestehen, dass ihm bei der Begutachtung von Bildern offenbar materielle Werte so wichtig wie die immateriellen waren. Mindestens 400.000 Euro ließ er sich für die Vermittlung von sieben völlig unbekannten Gemälden, die erst durch ihn zu teuren Max-Ernst-Originalen wurden, auf ein Schweizer Konto überweisen – zuzüglich einer unbekannten Summe von jenem Händler, der die später als Fälschungen entlarvten Gemälde kaufte. Die Höhe dieser Provosion hat Werner Spies, gegen den an seinem Wohnort Frankreich ein Verfahren läuft, bislang nicht genannt. "Das ist selbst für einen Spitzengutachter unüblich viel Geld", kommentierte sein Hausblatt, die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", und fügte hinzu: "Und die Verquirlung von gutachterlicher Tätigkeit und üppiger Entlohnung für die Öffnung der Zugänge ins Kunstmarktsystem ist problematisch."

    Es gab also Erwartungen an dieses Buch – ganz allgemeine und ganz konkrete. Leider erfüllt es die einen nur zum Teil und die anderen gar nicht. Zwar erzählt Werner Spies über 600 Seiten lang sehr amüsant, klug und unterhaltsam über die Begegnungen, die sein Leben prägten und aus denen er Wissen, Erkenntnis und ästhetischen Gewinn schöpfen konnte. Das geschieht über weite Strecken des Textes allerdings auf unnötig eitle Art und Weise.

    Irgendjemand sollte sich an irgendeinem nebeligen Herbstabend mal die Mühe machen, nachzuzählen, wie oft auf den 600 Seiten dieses Buches das Wörtchen "ich" vorkommt. Jenes kleine Wörtchen "ich", das bei Journalisten wie bei Kritikern eigentlich verpönt ist – weil es eben nicht mehr Werke und Künstler in den Mittelpunkt stellt, sondern den, der darüber schreibt. Ich und Beckett, ich und Natalie Sarraute, ich und Schlöndorff, ich und Max Ernst, ich und Willy Brandt, ich und Marcel Duchamp, ich und Anselm Kiefer, ich und Neo Rauch, ich und Christo, ich und Peter Handke, ich und Gerhard Richter, ich und Jorge Semprún, ich und Joseph Beuys, ich und Andreas Gursky, ich und Jörg Immendorff.

    Eigentlich hat er das gar nicht nötig. Spies’ Verdienste nimmt ihm niemand: Er hat Künstler ins allgemeine kulturelle Bewusstsein zurückgeholt – vor allem die französischen Surrealisten und ihre deutschen Kollegen. Hat bedeutende Ausstellungen verantwortet und dazu kluge Katalogtexte und Bücher verfasst. War Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie und Direktor des Museums für Moderne Kunst im Centre Pompidou – einem der weltweit wichtigsten Häuser seiner Art. Er hat seinen Teil zur Fortschreibung der internationalen Kunstgeschichte beigetragen und ist dafür immer wieder geehrt und ausgezeichnet worden. Das aber scheint ihm – und so lautet die eigentliche Botschaft seiner Autobiografie – irgendwann nicht mehr genügt zu haben. Er wollte nicht mehr Beobachter, Kritiker und Vermittler der Künstler sein – er wollte zu ihrer Welt dazugehören. Davon zeugen auch die zahlreichen Fotografien im Buch, die ihn mit diesen Künstlern zeigen – oft stolz, manchmal geradezu triumphierend. Als Kunsthistoriker und ehemaliger Journalist weiß Werner Spies um die Wirkung von Bildern. Immer wieder sonnt er sich im Glanze derer, die er treffen und sprechen durfte. Immer wieder betont er die Freundschaft zu ihnen. Und irgendwann wird klar: Hier zementiert ein selbstbewusster Zeitzeuge seinen Platz in der europäischen Geistesgeschichte. Hier wird die Autobiografie schon rein visuell zur Trophäensammlung – und das ist schade. Wer dieses Selbstverständnis hat, und wer bereit ist, seine Rolle als Vermittler von ideellen Werten auch auf die materiellen Werte auszudehnen, die sie am Kunstmarkt darstellen, der kann auch bereit sein, dafür viel Geld anzunehmen.

    Stilistisch geschieht all das auf durchaus elegante und atmosphärisch dichte Weise – so wie man es aus anderen Texten kennt, die Werner Spies über die Jahre und Jahrzehnte hin geschrieben hat. Wenn er zum Beispiel von einem Besuch im Wohn- und Arbeitshaus von Mark Rothko berichtet:

    "Das weite, hohe Atelier, das man über ein Stiegenhaus erreichte, überraschte den Besucher durch seine Kargheit. Mobiliar fehlte fast völlig. Nichts sollte hier von den Bildern ablenken. Nur ein bequemer Sessel, von dem aus der Künstler diese Bilder wie ein Hirte zu hüten und zu befragen schien, stand im weiten Raum. Hier hörte er Musik, mit Vorliebe Mozart. Und immer wieder unterbrach er eine Unterhaltung, um erneut seine Bilder zu betrachten. Das Schweigen konnte Minuten dauern. Der Besucher gewann dann den Eindruck, Rothko lasse es von den Bildern untertiteln. Er betrieb sein Metier, im Unterschied zu Pollock und dessen Gefolgsleuten, nicht, indem er auf existenzielle Weise 'im Bild’ sein wollte. Es herrschte bei ihm so etwas wie ein Berührungsverbot, das, meilenweit entfernt vom Vitalismus der jungen New Yorker Garde, zwischen Auge und Gemälde eine Distanz aufrechterhielt."

    An diesen Stellen wird Kunstgeschichte lebendig, weil es Spies meisterhaft gelingt, aus dem selbst erlebten Individuellen etwas Allgemeines zu destillieren, das so nur ein unmittelbarer Zeit- und Augenzeuge wiedergeben kann. So auch in der Erinnerung an den ersten Besuch bei Samuel Beckett am Boulevard Saint-Jacques in Paris:

    "Es war ein Gang voller Erwartung, wie später der zu Picasso, zu Duchamp oder Max Ernst. Für solche Momente versucht man im Voraus, eine eigene Dramaturgie zu entwerfen. Ich wusste, dass dieser Mann nach Kafka das gewaltigste Fragewerk in Gang gesetzt hatte und dass er mit dem Blick seiner bohrenden strahlendblauen Augen jeden Anflug einer Frage verzischen lassen konnte. Grauer Tweed, weitmaschiger schwarzer Pullover, die Brille auf die Stirn gezogen und Zigarillo. Es waren, wie ich später feststellte, die Augen Max Ernsts, die mich da anblickten, die mich offensichtlich prüften. Auch sie konnten, falls nötig, vom einen zum nächsten Wimpernschlag vereisen. Doch im Grunde gehörte Beckett zu den barmherzigsten und behutsamsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Man entdeckt das Mitleid bei ihm bereits in den ersten Texten, in der Kurzgeschichte ‚Dante und der Hummer’, in der der danteske Student Belacqua voller Horror mit ansehen muss, wie die Wirtin einen lebenden Hummer zum Kochen ins siedende Wasser wirft. Regelmäßig drehte sich bei Beckett das Gespräch um Leiden."

    Der Vergangenheit widmet sich Werner Spies ausführlich, dabei durchaus auch selbstkritisch und selbstironisch. Für die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart gilt das nicht. Hier wechselt der Autor vom selbstsicheren in einen wehleidigen Tonfall. Wer seine dürren und dürftigen Anmerkungen zum Fälschungsfall Beltracchi liest – im Buch nehmen sie gerade einmal viereinhalb von insgesamt 605 Seiten in Anspruch –, der kann fast den Eindruck gewinnen, der Verleger habe seinen Autor dazu zwingen müssen, sich überhaupt zu diesem unangenehmen Thema zu äußern. Kein Wort darüber, dass sich der Kunsthistoriker von der Familie des Fälschers auf deren Weingut in Südfrankreich einladen ließ. Kein Wort darüber, dass er naturwissenschaftliche Untersuchungen ablehnte, obwohl gerade die schließlich die Fälscher überführten, und dass er stattdessen aus einem falsch verstandenen und überkommenen Geniebegriff heraus lieber allein dem Auge vertraute und auch noch blauäugig die erfundene Geschichte von den beiden deutschen Privatsammlungen glaubte, aus der alle Beltracchi-Bilder stammen sollten. Kein Wort darüber, dass seine Begutachtungen manchmal nur weniger als eine halbe Stunde brauchten und dass seine teuer bezahlten Gutachten bisweilen nur aus einem einzigen Satz bestanden – mit Kugelschreiber auf die Rückseite eines Farbfotos geschrieben, das der Eigentümer mitbringen musste. "Aus meiner Fehlentscheidung kann ich mir deshalb keinen Vorwurf machen, weil ich die Arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen und nach meinem durch jahrzehntelange Erfahrung erreichtenKenntnisstand beurteilte" rechtfertigt sich Werner Spies dafür und fährt fort: "Ich konnte Käufer vermitteln, und die Beltracchis ließen es sich – obwohl ich es nicht verlangt habe – nicht nehmen, mir eine ansehnliche Verkaufsprovision auf ein angegebenes Schweizer Konto zu überweisen."

    "Die Beltracchis ließen es sich nicht nehmen …". In der jüngeren Rechtsgeschichte ist kein Fall bekannt, in der ein Kunsthistoriker mit vorgehaltener Waffe gezwungen worden wäre, die Nummer seines Kontos mit dem Namen "Imperia" bei der UBS in Crans Montana bekannt zu geben, damit ihm die Gauner darauf stolze 400.000 Euro überweisen können. Und selbst wenn: Wäre es für Werner Spies nicht ein leichtes gewesen, das Geld, das er angeblich gar nicht haben wollte, einem karitativen Zweck zuzuführen? "Es ist für mich schwer hinnehmbar, mich wegen meines Irrtums immer wieder am Pranger zu sehen", barmt er stattdessen, "während derjenige, der die gefälschten Bilder auf den Markt brachte, einen Millionenschaden anrichtete und ein glücklich-luxuriöses Leben führte, mit kaum mehr als einem blauen Auge davonkommt." Einen Millionenschaden hat Werner Spies allerdings, als er vom Kunstkritiker zum kassierenden Kunstvermittler wurde, durch den Weiterverkauf der von ihm für echt befundenen Bilder ebenfalls angerichtet. Und in Armut lebt auch er nicht.

    Viel Anekdotisches, manch Analytisches erfährt der Leser bei der Lektüre der Lebenserinnerungen von Werner Spies. Nach den gut 600 Seiten stellt er sich allerdings auch Fragen: Wenn schon an entscheidenden Stellen vor allem das eigene Ego die Hauptrolle spielt, wenn offensichtlich ganz am Schluss, in der unmittelbaren Gegenwart, mehr Interesse an Selbstverteidigung denn an Ehrlichkeit besteht und wenn Spies dann auch noch namentlich jene Redakteure überschwänglich lobt, die nun zu entscheiden haben, ob seine Texte noch gedruckt werden: Welchen Zweck hat dieses Buch dann? Und wie sehr darf man insgesamt dem vertrauen, was man gelesen hat?


    Literaturhinweis:
    Werner Spies: Mein Glück – Erinnerungen, 576 Seiten mit zahlr. S/W-Abildungen, geb. mit Schutz-Umschlag 19,99 € (D), ISBN 978-3-446-24105-3, Hanser Verlag, München