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EKD-Vorsitzender Bedford-Strohm
"Momentan geht Gewalt unter Berufung auf Religion hauptsächlich vom Islam aus"

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, wünscht sich eine breite muslimische Bewegung gegen religiös motivierte Gewalt. Er sagte im Interview der Woche des DLF, die jüngsten Anschläge hätten mit dem Islam zu tun, weil sich die Terroristen auf Koranverse beriefen. Es sei deshalb positiv, dass die muslimischen Verbände die Attentate scharf verurteilt hätten.

Heinrich Bedford-Strohm im Gespräch mit Christiane Florin | 27.03.2016
    EKD-Ratsvorsitzender Bedford-Strohm spricht während der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Bremen
    EKD-Ratsvorsitzender Bedford-Strohm spricht während der 12. Synode der Evangelischen Kirche in Bremen (dpa / picture alliance / Markus Hibbeler)
    Christiane Florin: Herr Bedford-Strohm, "Terror ist Gotteslästerung", das haben Sie bei Facebook gepostet, unmittelbar nach den Anschlägen in Brüssel. Wen wollen Sie damit erreichen?
    Heinrich Bedford-Strohm: Natürlich ist das eine Aussage, die sich an alle Menschen richtet, zunächst mal an die Menschen, die diese Pervertierung von Religion selbst betreiben, die also im Namen Gottes Gewalt ausüben. Aber natürlich auch durchaus auch an all die Menschen, die skeptisch oder kritisch auf das Phänomen Religion schauen und die sagen: Wenn im Namen von Religion Gewalt ausgeübt wird, dann muss da ein Problem mit Religion als solcher sein.
    Florin: Aber ist das größte Problem wirklich die Gotteslästerung?
    Bedford-Strohm: Das größte Problem ist zunächst einmal, dass Menschen ums Leben kommen, dass Menschen schlimmes Leid erfahren und die Folgen von solchen Anschlägen ganze Biografien erfassen und ganz weitläufig sind. Aber dann ist natürlich die Frage auch: Wie deutet man jetzt solche Vorgänge? Wie deutet man überhaupt dieses Phänomen, dass Terroristen sich auf den Namen Gottes berufen? Und darüber gibt es natürlich auch eine gesellschaftliche Diskussion, die deswegen auch wichtig ist, weil man ja versuchen muss zu verstehen: Was muss geschehen, damit solche Phänomene überwunden werden, damit Gewalt endlich überwunden wird? Und da kommt man dann an dem Thema Religion auch nicht vorbei. Da sind die Religionsgemeinschaften in der Verantwortung, insbesondere die, auf deren Traditionen sich solche Leute berufen. Aber das ist auch eine gesellschaftliche Frage.
    "Die muslimischen Verbände haben diesen Anschlag verurteilt"
    Florin: Nun taucht die Frage – Was hat das mit dem Islam zu tun? – nach jedem dieser Anschläge auf. Wie ist Ihre Antwort darauf?
    Bedford-Strohm: Es gibt eine deskriptive und eine programmatische Antwort. Deskriptiv heißt, dass man einfach das Phänomen feststellt, dass natürlich diese Anschläge etwas mit dem Islam zu tun haben, weil die Menschen sich schlicht und einfach auf diese Religion berufen und weil sie unter Berufung auf Koranverse solche schlimmen Dinge tun. Dann gibt es aber noch eine andere Ebene, nämlich die programmatische Ebene. Da werden die Terroristen sagen: 'Ja, das ist so, wenn man dem Islam folgt'. Und andere, die hier sagen: 'Wer sich auf die Religion des Islam für solche Taten beruft, der pervertiert diese Religion'. Die muslimischen Verbände haben sich sofort gemeldet, auch in sehr scharfen Worten diesen Anschlag verurteilt. Ich wünsche mir eine weltweite Verurteilung solcher terroristischer Aktivitäten. Ich wünsche mir eine breite muslimische Bewegung gegen solche religiös motivierte Gewalt.
    Florin: Reicht das, sich zu distanzieren? Was müsste jetzt konkret folgen?
    Bedford-Strohm: Ich glaube, dass alle Religionen die Aufgabe haben, sich mit ihren heiligen Schriften selbstkritisch auseinander zu setzen. Christen haben dazu auch Anlass, haben das auch jetzt über Jahrhunderte getan. Sie hatten Grund dafür, denn auch im Namen des Christentums wurden insbesondere im Mittelalter und dann in den Jahrhunderten danach, auch in den blutigen Konfessionskämpfen, schlimme Taten begangen. Und man hat sich auch da immer wieder berufen auf bestimmte Bibelstellen, die, wenn man sie aus dem Zusammenhang herausreißt, zu Gewalt aufzurufen scheinen. Und deswegen ist es wichtig, sich selbstkritisch mit den eigenen heiligen Schriften auseinander zu setzen. Im Moment, muss man sagen, geht die Gewalt auf der Welt unter Berufung auf die Religion hauptsächlich vom Islam aus, und deswegen ist es auch für den Islam und für die muslimischen Gelehrten, für die muslimischen Geistlichen wichtig, dass sie sich selbstkritisch mit ihrer heiligen Schrift, dem Koran, auseinandersetzen.
    "Ich will vermeiden, dass hier eine Religion belehrend gegenüber der anderen auftritt"
    Florin: Wie kommt das denn bei muslimischen Geistlichen an, wenn Sie als evangelischer Bischof, als christlicher Würdenträger sagen: 'Liebe Leute, setzt euch mal kritisch mit dem Koran auseinander'? Wirkt das dann hochmütig oder wie eine Verwestlichung?
    Bedford-Strohm: Ich sage ja sehr bewusst "die Religionen müssen sich selbstkritisch mit ihren heiligen Schriften auseinandersetzen". Ich will ja genau vermeiden, dass hier eine Religion belehrend gegenüber der anderen auftritt. Das habe ich auch auf einer Demonstration muslimischer Gemeinden in München gesagt. Während dieser Demonstration, nach den Attentaten von Paris, da habe ich genau dieses Thema angesprochen. Und ich weiß, dass viele auch in den muslimischen Gemeinschaften dieses Anliegen teilen. Und deswegen ist es nicht so, dass die eine Religion der anderen Belehrungen erteilt, sondern das ist einfach eine Aufgabe, die Religionen haben, wenn sie sich bewusst werden, dass sie auch missbraucht werden können. Und der beste Weg, um zu zeigen, dass das wirklich Pervertierungen sind und nicht die Erfüllung dessen, was die Religion als verbindlich den Menschen vorgibt. Der beste Weg dafür ist eben genau dieser kritisch aufgeklärte Umgang mit den eigenen religiösen Traditionen.
    Florin: Haben Sie den Eindruck, dass Ihre Apelle, Ihre Postings fruchten?
    Bedford-Strohm: Es gibt innerhalb des Islam – wenn Sie jetzt also die Frage stellten, ob sie in den muslimischen Gemeinschaften Widerhall finden – interessante und spannende Diskussionen. In den muslimischen Gemeinden ist viel Bewegung. Da gibt es neue muslimische Persönlichkeiten, die sich engagiert einsetzen für einen Islam, der wirklich "Ja" sagt zur Demokratie, der die Menschenrechte wirklich auch als Teil der eigenen Tradition sieht. Wenn man etwa das Münchner Forum für Islam sich anschaut, der Imam Benjamin Idriz vom Penzberg, die haben eine hervorragende Broschüre herausgegeben, in der sie Flüchtlingen erklären, warum von wesentlichen theologischen Traditionen des Korans aus die Gleichberechtigung von Frauen eben nichts ist, was man ablehnen soll oder nur taktisch annehmen soll, sondern etwas ist, was dem Koran entspricht. Ich kann mir nur wünschen, dass innerhalb der islamischen Gemeinschaften mehr solcher Diskussionen in Gang kommen. Und dass wir jetzt islamisch-theologische Fakultäten an öffentlichen Universitäten haben, ist für mich eine Riesenchance dafür, dass die Religion des Islam sich eben kritisch-aufklärerisch mit den eigenen Traditionen auseinandersetzt, so wie die christliche Religion das in Deutschland seit vielen Jahren tun kann und tun konnte.
    "Es wäre völlig undenkbar, dass man beim Thema Flüchtlinge schweigt als Kirche"
    Florin: Sie haben vorhin das Stichwort "Flüchtlinge" schon genannt. Wolfgang Schäuble, Finanzminister und evangelischer Kirchensteuerzahler, hat in einem Aufsatz für eine theologische Fachzeitschrift der evangelischen Kirche eine einseitige Politisierung vorgeworfen – und er meinte ganz sicher damit die evangelischen Statements zur Flüchtlingspolitik. Fühlen Sie sich da angesprochen?
    Bedford-Strohm: Ja, ich habe zunächst die Pressemeldungen über diesen Aufsatz gelesen und habe mich etwas gewundert. Und dann habe ich den Aufsatz selbst gelesen, und da kann ich nur sagen, konnte ich so ziemlich allem, was Wolfgang Schäuble da geschrieben hat, zustimmen. Er sagt nämlich gar nicht, dass die Kirche sich aus politischen Fragen heraushalten soll, sondern er sagt, dass sie nicht politisieren soll. Politisieren heißt, dass man seine politischen Meinungsunterschiede und Meinungsstreite jetzt in ein religiöses Gewand kleidet, dass man versucht, den besseren Nachrichtenkommentar abzugeben – das wünsche ich mir nicht. Wenn wir uns zu öffentlichen Fragen äußern, gerade auch in der Flüchtlingsfrage, dann tun wir das – ich sage es mal etwas pathetisch – aus geistlicher Bedrängnis. Wir tun das, weil Gottesliebe und Nächstenliebe nicht voneinander zu trennen ist. Wenn jemand Gottesdienst feiert und dann aber teilnahmslos wahrnimmt, wie Menschen in Not ihrem Schicksal überlassen bleiben, dann ist das nicht Gottesdienst, sondern das ist bloßer Kult. Und deswegen ist aus meiner Sicht absolut klar: In den großen Orientierungsfragen, in denen politische Entscheidungen über Leben oder Tod entscheiden können, da muss die Kirche sich einmischen, wenn sie ihrem eigenen Zeugnis treu bleiben will. Es wäre völlig undenkbar, dass man beim Thema Flüchtlinge schweigt als Kirche. Weil jeder weiß – und ich erfahre das zum Teil täglich –, dass Hilferufe von Menschen, bei denen es wirklich um Leben oder Tod geht, darauf nur dann reagiert werden kann, wenn die politischen Rahmenbedingungen entsprechend sind. Und deswegen müssen wir uns da einmischen.
    "Wir wollen keine Parteipolitik machen"
    Florin: Wenn Sie explizit den Kurs der Bundeskanzlerin unterstützen, ist das dann noch Politik oder schon Parteipolitik?
    Bedford-Strohm: Das ist eine sehr wichtige Frage und wir sind auch sehr, sehr vorsichtig, dass wir einzelne Personen oder womöglich Parteien unterstützen. Das kann nicht der Sinn kirchlichen Redens sein, denn wir wollen keine Parteipolitik machen, explizit keine Parteipolitik machen – egal in welche Richtung. Wenn die Kirchen in diesem Fall gesagt haben, dass die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin von uns Rückenwind bekommt, dann hat das einzig und allein zu tun mit grundlegenden Weichenstellungen, die in die eine oder andere Richtung gegeben werden können. Und da muss man einfach sagen, dass in Deutschland im letzten Jahr viele, viele Menschen sich für Flüchtlinge engagiert haben und damit eben auch ein Stück weit Christentum gelebt haben. In vielen Schriften des Alten Testaments und dann auch im Neuen Testament ist gerade der Umgang mit den Fremden so etwas wie ein Testfall für eine wirklich authentische Gottesbeziehung. Das können wir ja nicht ignorieren. Und wenn jetzt Menschen in der Politik sich abmühen unter schweren Bedingungen, jetzt da verantwortlich diese Impulse auch wirklich in Politik umzusetzen, dann verdienen sie auch unseren Rückenwind. Wir kritisieren, wir wollen auch mal prophetische Kritik üben, aber wenn Menschen sich unter solchen Bedingungen abmühen, solche Impulse auch wirklich aufzunehmen, dann verdienen sie auch Rückenwind.
    Florin: Wir sind hier in München und Sie sind ja nicht nur EKD-Ratsvorsitzender, sondern auch Bayerischer Landesbischof. Wie ist es denn nun mit der CSU, mit der Christlich-Sozialen Union? Papst Franziskus hat kürzlich Donald Trump kritisiert und hat gesagt, der sei kein Christ. Wer Zäune errichten wolle, sei kein Christ. Wie christlich ist die CSU?
    Bedford-Strohm: Also, ich verteile hier keine Etikettierungen.
    Florin: Halten Sie das für falsch, was der Papst gemacht hat?
    Bedford-Strohm: Ich will den Papst jetzt hier nicht kommentieren, insbesondere nicht, wenn sich hier ein Papst, der in Rom wohnt, über einen amerikanischen Politiker äußert. Ich glaube, dass wenn eine Partei das Wort "christlich" im Namen führt, sie eben auch ansprechbar ist und ansprechbar sein muss auf die christlichen Inhalte. Und deswegen ist meine Art mit dem Thema umzugehen, dass ich sehr deutlich und manchmal auch im persönlichen Kontakt und dann auch direkt, die bestimmten politischen Streitfragen anspreche und dann versuche ins Gespräch zu kommen über die ethischen Grundorientierungen, die vom christlichen Glauben her kommen. Und wenn dann etwa der ungarische Ministerpräsident unter Berufung auf das sogenannte "christliche Abendland" für eine konsequente Politik der Abschottung plädiert, dann muss ich ihm natürlich entgegenhalten, dass es ein Selbstwiderspruch ist, wenn man unter Berufung auf das Christliche nun ausgerechnet Menschen versucht von sich fernzuhalten, mit denen sich unser Heiland, derjenige, an den wir glauben, selbst identifiziert hat. Und ich nehme jetzt in Bayern sehr unterschiedliche Positionen wahr. Auch in der CSU gibt es da eine lebendige Diskussion um die richtige Reaktion auf diese Frage. Und für mich ist die Antwort einfach: Sachliche Diskussionen, Rückkehr zur Sachlichkeit.
    Florin: Sie sind jetzt nach Ungarn ausgewichen von Bayern aus – zu Horst Seehofer wollten Sie sich nicht äußern? Der gibt ja nun der Kurs der CSU vor.
    Bedford-Strohm: Ja, ich sage ja, ich bin mit ihm im Gespräch über diese Fragen.
    Florin: Im Gespräch oder im Streit?
    Bedford-Strohm: Auch im Streit – aber ich erlebe das so, dass der Streit normalerweise auch was bringt. Aber nicht alles, was man da so bespricht, eignet sich dafür, es jetzt im Deutschlandfunk allen Menschen bekanntzugeben.
    "Ich halte nichts davon, die AfD jetzt generell zu verdammen"
    Florin: Sie selbst haben ein SPD-Parteibuch, lassen aber die Mitgliedschaft ruhen. Kann jemand mit einem AfD-Parteibuch ein hohes Kirchenamt bekleiden?
    Bedford-Strohm: Ich glaube nicht, dass man das an der Parteimitgliedschaft entscheiden kann. Ich halte auch nichts davon, dass man jetzt Ausschlusserklärungen für bestimmte Parteien da abgibt, sondern auch hier ist die Sache entscheidend. Wo menschenfeindliche Einstellungen vertreten werden oder in diesem Fall ausländerfeindliche Tendenzen vertreten werden, da muss man ein klares "Nein" entgegenhalten, da ist eine Grenze erreicht, wo man auch keine Kompromisse machen kann. Aber dann gibt es natürlich in der AfD auch viele Menschen, die sind verunsichert, die stellen Fragen, die haben Sorgen, die haben auch die Angst, dass wir das nicht schaffen mit der Integration der vielen Flüchtlinge – darüber muss man natürlich reden. Und ich halte nichts davon, die Menschen jetzt alle in die rechtsextreme Ecke zu schieben. Diese Rechtsextremen gibt es auch in der AfD, bis in die Landesvorsitzendenpositionen hinein, aber ich halte nichts davon, die AfD jetzt generell und vor allen Dingen die Wählerinnen und Wähler der AfD generell jetzt zu verdammen.
    Florin: Also, einen prinzipiellen Ausschluss von Kirchenämtern für AfD-Mitglieder sollte es nicht geben?
    Bedford-Strohm: Halte ich nicht für den sachlich gebotenen Weg, sondern Auseinandersetzung in der Sache.
    "Durch das Gespräch mit einer anderen Religion unsere eigene Religion neu entdecken"
    Florin: Sie haben die Ängste vor der Islamisierung oder vor der angeblichen Islamisierung Deutschlands einmal "kleingläubig" genannt. Aber offenbar erreicht man mit Kleingläubigkeit ganz schön hohe Wahlergebnisse, zweistellige Wahlergebnisse – womit erklären Sie sich den Erfolg dieser Partei?
    Bedford-Strohm: Ja, also, wenn ich sage "kleingläubig", dann bezieht sich das darauf, dass wir, wenn wir uns auf den christlichen Glauben berufen, doch eigentlich viel selbstbewusster sein müssten. Wenn man jetzt Angst hat, dass der Islam sich hier ausbreitet und man versucht es mit Mitteln der Abschottung zu verhindern, dann steht dahinter ja auch im Grunde die Einschätzung, dass der christliche Glaube schwach geworden ist, dass der christliche Glaube die Menschen nicht mehr erreicht, dass das Gebet etwas ist, was Muslime tun, aber Christen eigentlich kaum noch praktizieren. Meine Antwort ist: Nicht kleingläubig sein, unserer Botschaft etwas zuzutrauen und vielleicht durch das Gespräch mit einer anderen Religion unsere eigene Religion neu entdecken, vielleicht selbst wieder neu verstehen, was beten bedeutet.
    Florin: Beten gegen die Angst vor der Islamisierung?
    Bedford-Strohm: Nein, das ist nicht, was damit gemeint ist mit "Beten gegen die Angst vor der Islamisierung", sondern Gebet als Wiederentdeckung der Kraft unserer eigenen Religion. Und dann, wenn man diese Kraft wiederentdeckt, dann wird man sehen, dass das nicht zur Abwertung anderer Religionen führt. Wer Identität nur durch Abgrenzung gewinnt oder durch Abwertung gewinnt, der ist sich eigentlich seiner eigenen Sache in der Regel nicht sicher.
    Florin: Im nächsten Jahr wird das Reformationsjubiläum gefeiert. Wer feiert da was?
    Bedford-Strohm: Ich würde sagen: Die ganze Kirche feiert.
    Florin: Die Evangelische?
    Bedford-Strohm: Nein, ich sage jetzt bewusst "die ganze Kirche feiert", weil es beim Reformationsjubiläum um die Neuentdeckung von Jesus Christus geht. Wir sagen gemeinsam mit den katholischen Geschwistern: Wir wollen dieses Reformationsjubiläum als großes Christusfest feiern, denn Martin Luther ist es um nichts anderes gegangen, als neu auf Christus hinzuweisen. Und deswegen wollen wir keine Heldenverehrung, wir wollen nicht protestantische Selbstbeweihräucherung, Identitätspflege auf Kosten anderer, sondern wir wollen, dass die eine Kirche Jesu Christi neue Kraft bekommt. Und deswegen wird es zum ersten Mal in der Geschichte ein Reformationsjubiläum werden, was richtig ökumenischen Geist atmet.
    "Neubesinnung auf Christus - das erhoffe ich mir von diesem Reformationsjubiläum"
    Florin: Aber es ist ja nicht nur ein kirchliches Jubiläum, sondern es ist ein nationales Jubiläum, also für alle Deutschen. Ein Drittel der Deutschen gehört keiner Konfession an oder keine Konfession mehr an – was sollen die denn feiern?
    Bedford-Strohm: Also, ich glaube, es gibt verschiedene Ebenen. Die äußerste Ebene ist die Anerkenntnis der kulturellen Bedeutung der Reformation. Es ist unbestritten, dass die Reformation historisch für die ganze Welt gewichtige Auswirkungen hatte. Es ist unbestritten auch zum Beispiel, dass für die deutsche Sprache die Bibelübersetzung Martin Luthers eine ganz zentrale Bedeutung gehabt hat. Ich freue mich riesig, dass wir 2017 eine neue Revision der Lutherbibel vorlegen werden. Das wird ein Punkt sein, der natürlich religiöse Bedeutung hat, der aber für die ganze deutsche Sprache von zentraler Bedeutung ist. Also, "Perlen vor die Säue werfen" und viele, viele andere Redewendungen, die gibt es erst seit der Bibelübersetzung Martin Luthers. Und dann natürlich die religiöse Ebene, dass überhaupt von Gott neu die Rede ist, dass Reformation eben auch heißt, dass wir althergebrachte Traditionen nicht einfach unhinterfragt übernehmen, sondern dass wir nachfragen und kritisch uns damit auseinandersetzen. Und das, was wir wirklich mit unserem eigenen Glauben, mit unserem Gewissen sagen können, das dann auch zum Ausdruck bringen. Und dann – ich habe es schon gesagt – der Kern des Ganzen, wirklich Neubesinnung auf Christus, Neubesinnung auf diese wunderbare Botschaft, auch das erhoffe ich mir von diesem Reformationsjubiläum.
    Florin: Als Sie Ihr Studium beendet haben, Ende der 80ger Jahre, da hatte die Evangelische Kirche in Deutschland 29,5 Millionen Mitglieder, so um 1990 herum, jetzt, gut 25 Jahre später, sind es ungefähr 22,5 Millionen. Also wenn das so weitergeht, ist ja beim 550. Reformationsjubiläum fast niemand mehr da, der als Mitglied der Kirche noch mitfeiert. Wie motivieren Sie sich eigentlich? Woher kommt die Kraft, von der Sie vorhin gesprochen haben?
    "Ich möchte, dass Menschen aus innerster Überzeugung Mitglied der Kirche sind"
    Bedford-Strohm: Also, erst einmal bin ich jetzt nicht primär motiviert durch die Mitgliederzahlen, sondern durch die Botschaft. Also, die Mitgliedzahl kann nie die primäre Motivation sein. Aber die Rechnung, die Sie da vorgelegt haben, das ist jetzt wirklich die typische, sehr einfache Verfallsrechnung. Die ist beliebt, aber die ist natürlich Unsinn. Denn wir erleben ja nicht einen kontinuierlichen Verfallsprozess, sondern das ist eine Ausdifferenzierung, die sehr viel zu tun hat mit gesellschaftlichen Veränderungen. Heute kann jeder selbst entscheiden, ob er Mitglied einer Religionsgemeinschaft sein will oder welcher Religionsgemeinschaft er angehören möchte. Und da entscheiden sich viele Leute auch dafür, eben nicht der Kirche anzugehören. Wir haben auch Eintritte, auch Menschen entscheiden sich neu für die Kirche, aber wir haben eben auch Austritte. Und ich wünsche mir – das will ich ganz deutlich sagen -, ich wünsche mir nicht die Verhältnisse der 50er-Jahre zurück, ich bejahe das ausdrücklich, dass Menschen heute aus Freiheit sich einer Glaubensgemeinschaft anschließen. Ich möchte, dass Menschen aus innerster Überzeugung Mitglied der Kirche sind und nicht aus Angst vor sozialen Sanktionen. Und da sind wir am Arbeiten.
    Florin: Aber die Zahlen, die ich da vorhin genannt habe, die haben doch eine ganz konkrete Seite. Ich hatte kürzlich einen evangelischen Pfarrer im Interview, der eines Sonntags vor einer völlig leeren Kirche gestanden hat und der in diesem Interview sehr ehrlich gesagt hat: Das hat ihm wehgetan. Das muss doch Ihnen auch wehtun oder Sie haben doch ganz bestimmt mit einer anderen Motivation angefangen als damit, dass die Mitgliederzahl nicht nur zurückgeht, sondern dass sie schnell zurückgeht und dass auch fast so etwas wie ein Generationenabbruch stattfindet?
    Bedford-Strohm: Natürlich macht mir das Sorge. Und wenn ein Pfarrer vor einer leeren Gemeinde steht, natürlich ist das deprimierend, das ist völlig klar, das würde mir genauso gehen. Die Jugend, das ist, glaube ich, das Wichtigste, dass junge Menschen heute immer weniger selbstverständlich diese Botschaft auch wirklich für sich neu entdecken. Ich frage also alle jungen Menschen, mit denen ich da zusammenkomme, die frage ich immer: Was müssen wir tun, damit die Kirche für euch attraktiv ist? Und da ist die wichtigste Botschaft: Beteiligung. Junge Leute wollen selber gestalten, wollen nicht irgendwie auch mal dabei sein können, sondern wollen selber gestalten.
    "Ich wünsche mir schon eine geistliche Erneuerung unserer Kirche"
    Florin: Was hält denn die Kirchen am Leben? Ist es der Glaube oder das Geld, die Kirchensteuer?
    Bedford-Strohm: Das Geld kann es nie sein. Wenn man so immer über Kirchensteuern herzieht und sagt, dass die sozusagen verhindern, dass wir vital sind – mit diesen Kirchensteuern können wir sehr viel Segensreiches machen und wir tun es auch, nicht nur in der sozialen Arbeit, sondern auch in der weltweiten kirchlichen Gemeinschaft. Trotzdem, das Geld kann nie der entscheidende Punkt sein, der eine Kirche, eine Gemeinschaft am Leben erhält, sondern es muss die innere Kraft sein, die geistige Kraft sein. Und deswegen wünsche ich mir schon eine geistliche Erneuerung unserer Kirche.
    Florin: Aber die Einnahmen hängen ja mehr von der konjunkturellen Entwicklung ab als vom Werben neuer Mitglieder oder vom Werben um die Mitglieder, die man noch hat. Sie sind gar nicht genötigt, gewinnend werbend aufzutreten, wenn eigentlich die Steuerpolitik viel wichtiger ist für das finanzielle Polster.
    Bedford-Strohm: Das zeichnet jetzt ein Bild, als ob die Kirchen vor allem ökonomisch orientiert seien und jetzt sozusagen ihre Ausdrucksformen danach wählen, welche ökonomischen Konsequenzen sie haben – das ist natürlich nicht der Fall. Das Geld ist ein Mittel, um bestimmte Dinge, die sich als Konsequenz des christlichen Glaubens ergeben, umzusetzen.
    Florin: Praktizierende Christen sind jetzt zu dieser Zeit am Ostersonntag im Gottesdienst. Können Sie für nichtpraktizierende oder Nichtchristen erklären, was das Ostergeschehen ist?
    Bedford-Strohm: Ja, ich glaube, dass die Osterbotschaft in der Tat nicht nur für Christen von zentraler Bedeutung ist, sondern dass sie für die Gesellschaft insgesamt von ganz zentraler Bedeutung ist. Der Karfreitag ist der Tag, wo wir des Leidens und Sterbens Jesu Christi gedenken. Das ist der Tag – und deswegen ist es gut, dass er ein öffentlicher Feiertag ist –, wo eine ganze Gesellschaft innehält, wo sie die ganze Abgründigkeit des Leidens in der Welt wahrnimmt und sich nahegehen lässt, also aufhört mit dem Verdrängen des Leidens. Und dann kommt der Ostersonntag, der eben nicht einfach nur eine oberflächliche Freude zum Ausdruck bringt oder irgendwie Happy-End-Stimmung verbreiten möchte, sondern Ostern ist die tiefe Gewissheit, dass am Ende das Dunkle, die Gewalt, der Terror nicht das letzte Wort hat. Diese christliche Überzeugung, ich glaube, dass die jenseits auch der Grenzen des christlichen Glaubens von ganz zentraler Bedeutung für eine Gesellschaft ist. Lebt eine Gesellschaft aus der Zuversicht oder lebt sie letztlich aus dem Nihilismus, also aus der Überzeugung, dass sowieso alles den Bach runtergeht? Das ist schon wichtig für eine Gesellschaft und auch für den Zusammenhalt in einer Gesellschaft. Wenn man das Gefühl hat, dass man, wenn man das glaubt, seinen Verstand an der Garderobe abgeben muss, dann kann ich nachvollziehen, wenn Menschen sagen: 'Ich kann damit nichts anfangen'. Meine Erfahrung ist aber, dass Menschen sich eigentlich sehnen danach, dass ihr Leben diese Öffnung in die Zukunft, ins Licht anstatt ins Dunkel bekommt.
    "Es hat so etwas wie eine Revolution der Empathie gegeben"
    Florin: Nun bietet ein Lebensmitteldiskounter auch gerade eine Broschüre an, in der Ostern erklärt wird und zwar als christliches Fest. Was kann Aldi besser als die Evangelische Kirche in Deutschland, als die EKD?
    Bedford-Strohm: Ich glaube nicht, dass Aldi irgendwas besser kann, sondern ich freue mich, wenn diese Dinge erklärt werden – egal, an welchen Orten es ist.
    Florin: Letzte Frage: "Wir schaffen das", hat Angela Merkel gesagt, ein viel zitierter, viel strapazierter Satz, der wie ein Bekenntnis klingt. Glauben Sie dieses Credo?
    Bedford-Strohm: Ich glaube, dass wir viel mehr können als wir manchmal denken – das letzte Jahr hat es gezeigt. Kein Mensch hätte geglaubt, dass Deutschland und vor allen Dingen die Deutschen eine Million Flüchtlinge in diesem Jahr aufnehmen. Trotzdem ist es geschehen und viele Menschen haben damit auch sehr gute Erfahrungen gemacht. Es hat so etwas wie eine Revolution der Empathie gegeben. Ich bin zuversichtlich, dass wir in 20 Jahren zurückschauen auf diese Jahre jetzt und sagen: 'Es war schwer, aber wir haben es geschafft'.
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