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Elend im Land der Eleganz

Die Wohnungsnot in Frankreich ist gegenwärtig: Nicht nur die Ärmsten der Armen fehlt es an akzeptablen Unterkünften, auch die Mittelschicht macht zunehmend Bekanntschaft mit dem Elend auf dem Wohnungsmarkt. Laut Gesetzt sind alle Kommunen verpflichtet, bis zum Jahr 2020 ausreichend Sozialwohnungen zu bauen. Doch reiche Vororte kaufen sich von dieser Pflicht frei.

Mit Reportagen von Bettina Kaps, Redakteurin am Mikrofon: Ursula Welter | 27.09.2008
    Elend im Land der Eleganz - Wohnungsnot in Frankreich. Gesichter Europas heute mit Reportagen von Bettina Kaps. Am Mikrofon begrüßt Sie Ursula Welter.

    Es ist eine alte Geschichte, die Geschichte der Wohnungsnot in Frankreich. Seit Jahrzehnten fehlt es an Wohnraum für die Ärmsten. Als eine Frau ohne Dach über dem Kopf im Winter 1954 erfror, regte sich das Gewissen Frankreichs, denn es hatte eine Stimme bekommen, die des Abbé Pierre.

    Der Appell des Abbé Pierre ist Geschichte, die Wohnungsnot in Frankreich ist gegenwärtig. Gut fünfzig Jahre später sind es nicht mehr nur die Ärmsten der Armen, denen es an akzeptablen Unterkünften fehlt. Heute sind es die Einwanderer, die in menschenunwürdigen Behausungen leben müssen. Und es ist zunehmend auch die Mittelschicht, die Bekanntschaft macht mit dem Elend auf dem Wohnungsmarkt.

    Vor acht Jahren wurde das Gesetz "Solidarität und Stadterneuerung" verabschiedet. Leere Paragrafen, wie sich zeigen sollte. Alle Kommunen sind verpflichtet, bis zum Jahr 2020 ausreichend Sozialwohnungen zu bauen - ein Fünftel des Bestandes soll so zu bezahlbarem Wohnraum werden. Andernfalls droht Strafe. Wer Geld hat, kauft sich frei. Neuilly-sur-Seine etwa, der reiche Pariser Vorort. Hier war Nicolas Sarkozy 19 Jahre lang Bürgermeister. Heute ist der Präsident. 60.000 Einwohner zählt Neuilly, ungezählte Prachtwohnungen gibt es, aber nur 954 Sozialwohnungen.


    Ghettos der Reichen
    Lucienne Buton wirft einen flüchtigen Blick in den Spiegel neben dem Haustor: Sie ist schick und zugleich lässig gekleidet. Über der weiten Hose trägt sie eine luftige, paillettenbestickte Bluse, die eleganten Pumps sind beige und schwarz gemustert. Eine Frau, die genau weiß, dass man ihr die 72 Jahre nicht ansieht. Mit der Hand fährt sie durch die kurzen blonden Haare, rückt die rote Brille zurecht. Der neue Bürgermeister erwartet sie im Rathaus. Er, der Konservative, ein junger Unternehmer, hat die altgediente Sozialistin zum Gespräch eingeladen. Sie macht sich auf den Weg.

    Nach wenigen Schritten bleibt Lucienne Buton in der Straße stehen, schüttelt Hände, verteilt Wangenküsse. Sie ist bekannt in Neuilly und sie wird gemocht - obwohl sie eine Linke ist und Forderungen stellt, die in dieser konservativ geprägten Stadt nicht gerne gehört werden.

    "Schon als ich zum ersten Mal in den Stadtrat gewählt worden war, fiel mir auf, wie sich Neuilly entwickelte. Das war vor 25 Jahren. Damals war Nicolas Sarkozy hier Bürgermeister, und obwohl er noch jung war, strebte er bereits das Amt des Staatspräsidenten an. Er wollte die konservative Wählerschaft an sich binden. Die Mieten wurden immer teurer, und deshalb mussten viele Leute fort ziehen. Das fand ich ungerecht. Und so wurde der soziale Wohnungsbau zu meinem Steckenpferd."

    Buton geht vorbei an verglasten Bürogebäuden mit vornehmen Eingangshallen. Die Schilder weisen Namen internationaler Beratungsfirmen aus, Anwaltskanzleien, Banken, Versicherungen. Ihre Gewerbesteuern tragen dazu bei, dass Neuilly eine der reichsten Städte in Frankreich ist. Auch die Bürger hier sind reich: Ein Fünftel aller Haushalte zahlt Vermögenssteuer.

    Zugleich ist Neuilly ein Spitzenreiter unter den Kommunen, die fast gar keine Sozialwohnungen bauen und damit das Gesetz "Solidarität und Stadterneuerung" missachten. Genau das empört Lucienne Buton: Gerade eine so reiche Stadt könne es sich doch leisten, Wohnungen für alle sozialen Schichten zu bauen, sagt sie. Das wollte sie auch Nicolas Sarkozy klarmachen. Fast 20 Jahre lang saß sie dem damaligen Bürgermeister im Rathaus von Neuilly als Oppositionsführerin gegenüber.

    "Im Stadtrat habe ich das Problem regelmäßig angesprochen. Aber das war nicht schicklich. Herr Sarkozy wimmelte mich jedes Mal ab. Er sagte immer: "Frau Buton, in Neuilly zu wohnen, das muss man verdient haben.""

    Der Satz ärgert sie heute noch.

    Ihr Weg führt an einer hellen, neugotischen Kirche vorbei, daneben klafft eine große Baulücke, es folgt eine moderne Wohnanlage mit akkurat gestutztem Rasen und einem Azaleenbeet. Das ganze Gelände gehörte früher der Pfarrei - vor 13 Jahren hat die Kirche es der Stadt verkauft, auf dass diese hier Wohnungen für Geringverdiener baue.

    "Im Gemeinderat hatten wir damals ein Programm mit 160 Sozialwohnungen beschlossen. Einige Wochen später war von 110 Wohnungen die Rede, aber nur 52 Wohnungen sind hier wirklich gebaut worden. Das Programm war offenbar als Vorzeigeprojekt gedacht, um zu sagen: Seht her, wir bemühen uns ja. Mit einem Terrain, das fast nichts gekostet hat. Danach war Schluss."

    Damals durfte Buton zum ersten und einzigen Mal in einem Ausschuss sitzen, der Sozialwohnungen vergibt. Im Rathaus hatte sich eine Flut von 1500 Anträgen auf Sozialwohnungen angesammelt. Die Kommission tagte lange, um die wenigen Glücklichen auszuwählen.

    "Hinterher habe ich erfahren, dass unsere Entscheidungen nicht alle berücksichtigt wurden. Da sind offenbar ein paar Freunde bevorzugt worden."

    Nach Angaben der Stiftung Abbé Pierre sollte Neuilly zwischen 2002 und 2006 1324 Sozialwohnungen bauen, 181 wurden fertig gestellt. Da die Stadt das Gesetz "Solidarität und Stadterneuerung" nicht respektiert, werden ihre Anstrengungen nun regelmäßig vom Staat kontrolliert. Aber nur ein einziges Mal musste Neuilly auch wirklich eine Strafe von 800.000 Euro zahlen. Seither kam die Stadt ungeschoren davon.
    "Sie haben dem Präfekten versprochen, dass sie bauen werden, und als Beweis führen sie an, dass sie Grundstücke und Wohnungen gekauft haben, um die vorgeschriebenen 20 Prozent nach und nach zu erreichen. Das hat dem Präfekten offenbar genügt, um von der Strafe abzusehen. Aber zugleich lassen sie durchklingen, dass es niemals 20 Prozent Sozialwohnungen in Neuilly geben wird."

    Aus ihrer Arbeit im Stadtrat weiß Buton, dass in der Baulücke neben der Kirche noch etwa 20 Sozialwohnungen entstehen sollen. Sie geht zum Zaun: Eine ausgehöhlte Fassaden ist zu sehen und eine ehemalige Kapelle. Alte Gebäude, die nun teuer restauriert werden. Sie studiert die Bautafel.

    "Schauen Sie sich das an: "Vorhang auf für die kulturelle und soziale Einrichtung Sankt Anne." Wohnanlage mit Theatersaal, Auditorium, Wohnungen und Büros. Da steht gar nichts von Sozialwohnungen. Selbst wenn sie welche bauen, verbergen sie es."

    Bei den Kommunalwahlen vom Frühjahr schafften Sozialisten und Grüne nicht einmal mehr den Einzug in den Stadtrat von Neuilly. Fünf konservative Gruppierungen konkurrierten um die Wähler und sind nun im Rathaus unter sich. Auch Buton hat Sitz und Stimme im Stadtrat verloren. Umso mehr empfindet sie es als Genugtuung, dass der neue Bürgermeister nun eine unabhängige Auswahlkommission für die Vergabe von Sozialwohnungen schaffen will. Und dass er sie zum Mitglied ernennen will.

    "Monsieur Fromentin braucht Madame Buton, um zu zeigen, dass er in Sachen Sozialwohnungen Transparenz walten lässt!"

    Vor dem Rathaus, einem wuchtigen grauen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, bleibt sie stehen und dreht sich um. Dunkelgrüne Kastanien werfen ihre Schatten auf die breiten Straßen, das dichte Laub verbirgt vornehme Bürgerhäuser.

    "Schauen Sie, wie schön Neuilly ist. Gerade deshalb kämpfe ich darum, dass es wieder eine Stadt für alle wird. Mich stört es nicht, dass hier Reiche wohnen, aber ich will, dass dieses Privileg geteilt wird. Ich verlange Solidarität. Das war 25 Jahre lang mein Ziel, und das wird es auch bleiben."

    Dann lacht sie zuversichtlich und steigt die Stufen empor.



    "Mitternacht in den westlichen Vororten von Paris. Ein Kommando des Abbé Pierre, des Apostels der Wohnungslosen, hat sich heute Nacht auf leisen Sohlen an einen unbenutzten Eisenviadukt angeschlichen und in den zwanzig Minuten, die wir hier stehen, sind unter zwei Gewölben dieses Viaduktes fertige Wohnungen entstanden. Die zukünftigen Hausherren, etwa ein dutzend Männer, machen sich jetzt gerade an die letzten Arbeiten. Ihre Frauen und Kinder sitzen dicht gedrängt um einen Ofen in einem Bistro gegenüber, und werden laut Plan in einer halben Stunde in ihre neuen Wohnungen einziehen."

    Die Stiftung Abbé Pierre prangert in Frankreich nicht allein den Wohnungsmangel an. Der "Skandal des unwürdigen Wohnens" sei noch größer, noch weitreichender. Mehr als zwei Millionen Menschen, so schätzt die Stiftung, leben unter unwürdigen Bedingungen im Land der Eleganz: Feuchte Behausungen, ohne Toilette, dafür mit brüchigem Mauerwerk. Dabei haben die Elendsquartiere durchaus ihren Marktwert - für die Eigentümer.

    Im vergangenen Winter begann die Stiftung mit einer Aktion, die sie "SOS Taudis" nannte, SOS Elendsquartier. 2,5 Millionen Euro wurden bereitgestellt. Wer ein Elendsquartier kenne oder gar darin wohne, möge sich melden.


    SOS Taudis
    Es regnet so heftig, dass auch die mächtigen Platanen keinen Schutz mehr bieten. Eric Constantin - Anfang 40, groß, schlank, unrasiert, blauer Pullover, Jeans und Tennisschuhe - spannt seinen Knirps auf. Er geht den Boulevard Auguste Blanqui entlang, checkt die Hausnummern der großen Mietshäuser. Constantin arbeitet für die Stiftung Abbé Pierre und will ein Elendsquartier besichtigen, der Mieter hat ihn alarmiert. Dass er nun in diesem bürgerlichen Viertel gleich neben der Place d´Italie unterwegs ist, wundert ihn nicht.

    "Wir haben gewiss öfter im Pariser Osten zu tun, wo die ärmeren Viertel sind. Aber wir werden auch ins reiche 16. Arrondissement gerufen oder ins Zentrum der Stadt. Denn in Paris wird einfach alles vermietet. Auch in einem vornehmen Viertel gibt es Keller oder Mansarden. Wegen der Wohnungsnot lassen die sich vermieten."

    Constantin steuert auf die Nummer 31 zu. Das vierstöckige Gebäude ist sauber verputzt. Im Erdgeschoß ist eine Gaststätte untergebracht, Creperie de Carnac steht auf den Fensterscheiben. Nichts deutet auf eine Wohnmisere hin. Vor der Haustür wartet der Mann, der ihn angerufen hat, und winkt ihm zu.

    Fathi Najjar - Ende 30, mittelgroß, untersetzt, grünes Polohemd, Jeans und weiße Sportschuhe - drückt die Zigarette aus, dann führt er ins Innere. Der Gang ist schmal und dunkel. Unmittelbar hinter dem Eingang ist eine braun gestrichene Tür in die Wand eingelassen, es könnte der Zugang zu einer Besenkammer sein. Najjar zieht sie auf.

    Das hier, sagt er, ist sein Zuhause. Ein hellgrünes Schlafsofa, ein niedriger Tisch mit karierter Wachstuchdecke und zwei Wandregale füllen das kleine Zimmer restlos aus. Der Raum ist tiptop aufgeräumt, auf dem Kachelboden ist kein Krümel zu sehen und die Wände sind frisch gestrichen. Auf die Rücklehne des Sofas hat Najjar Plüschtiere gesetzt, darüber ist eine Wandmalerei gepinselt: Durch eine antike Mauer fällt der Blick auf das weite Meer.

    Najjar arbeitet als Maler auf dem Bau. Das Trompe l'oeil, sagt er stolz, habe er selbst gemalt, es soll den Raum größer wirken lassen und ihm selber das Gefühl von frischer Luft geben.

    Denn die Luft ist feucht und faulig. Najjar zeigt auf die Wand neben dem Fenster, wo sich grauschwarze Schimmelflecken ausbreiten.

    "Dieser Geruch quält mich, er macht mich krank. Riechen Sie es? Ich muss ihn 24 Stunden am Tag einatmen. Jeder Besucher sagt: Oh, wie das stinkt. Man könnte meinen, dass ich in einem Klo wohne."

    Das einzige Fenster geht zur Straße hinaus. Najjar hat es mit einem geblümten Vorhang verdeckt, damit Passanten nicht hineinschauen können. Vor dem Fenster ist ein großes Loch im Boden, darin steckt eine Leiter, die in den Keller führt. Diese Fallgrube ist ein weiteres Problem.
    "Das macht mir Angst, seitdem ich neulich beim Fenster in das Loch gefallen bin. Gott sei Dank bin ich mit dem Rücken auf dem Boden aufgekommen. Ich konnte die Füße bewegen und da habe ich mir gesagt: Uff, alles in Ordnung."

    "Das ist ziemlich gefährlich."

    "Zu gefährlich, um eine Familie zu gründen oder meine Mutter einzuladen. Ein spielendes Kind würde sofort hinunterfallen."

    Eric Constantin will den Keller sehen, vorsichtig klettert er die Leiter hinab: In dem fensterlosen Raum ist eine Küche eingerichtet, außerdem gibt es eine Dusche und eine Toilette, aber keine Heizung und auch keine Lüftung. Constantin zieht ein Heft aus der hellbraunen Skytasche, notiert.

    "Der Vermieter hat die Wohnfläche also verdoppelt, indem er den Keller benutzt."

    "Um die Feuchtigkeit zu verbergen, musste ich diese Wand in Schwarz streichen."

    Der Kühlschrank rostet und vom Küchenschrank blättert die Farbe ab. Im Kachelboden ist eine Holzklappe eingelassen.

    "Das ist der Zugang zum Kanalsystem. Eines Tages sind Arbeiter hinunter gestiegen und danach haben sie das Loch nur mit dieser einfachen Klappe verschlossen. Ich habe Silikon in die Ritzen geschmiert, weil der Geruch unerträglich war. Da unten verlaufen die Ableitungskanäle vom ganzen Haus."

    Constantin hat genug gesehen. Die Männer klettern wieder hinauf und setzen sich an den kleinen Tisch. Najjar stehen Schweißperlen auf der Stirn, das Atmen ist mühsam. Er kramt seinen Mietvertrag hervor. Zehn Jahre wohnt er nun schon hier und ist dem Vermieter bis heute dankbar, weil der ihn einziehen lies, obwohl er aus Tunesien kam und zunächst keine gültigen Papiere besaß. Die Miete beträgt 230 Euro - das ist ein akzeptabler Preis, selbst für eine elende Behausung. Aber seit einem Monat ist Fathi Najjar französischer Staatsbürger. Jetzt will er auch anständig wohnen.

    "Ich möchte heiraten. Dazu brauche ich eine Wohnung. Das Mädchen habe ich schon gefunden, die Wohnung nicht."

    Auf dem Bau verdient Najjar 1400 Euro netto im Monat - in Paris ist das zu wenig, um eine Wohnung auf dem freien Markt zu finden. Er erhofft sich eine Sozialwohnung. Constantin schüttelt den Kopf: Das ist nicht sein Job. "SOS Taudis" hilft Mietern, die ihre Rechte durchsetzen wollen.

    "Der Vermieter ist nett! Er hat mir nichts getan, nur die Wohnung macht mich krank."

    "Aber er vermietet Ihnen ein Loch, dass er in diesem Zustand nicht vermietet dürfte. Wir können die Polizeipräfektur benachrichtigen, dann ist der Vermieter gezwungen, die Sicherheitsmängel zu beseitigen."

    "Ich will doch nur eine Lösung für mich finden."

    "Genau da liegt mein Problem: Sie sagen, er ist nett - also werden wir nichts gegen ihn unternehmen. Aber wenn Sie hier eines Tages ausziehen, wird er die Wohnung weiter vermieten. Und das ist nicht in Ordnung, weil sie wirklich gefährlich ist."

    Fathi Najjar seufzt. Seinen Vermieter verpfeifen, so hatte er sich das nicht vorgestellt. Constantin sagt ihm noch, bei welchem Amt er eine Sozialwohnung beantragen kann. Dann verabschiedet er sich und geht zur Metro. Er war mal wieder vergeblich unterwegs.

    "So etwa in der Hälfte aller Fälle können wir den Kampf gegen das Elendsquartier erst gar nicht aufnehmen, weil die Mieter nur eins wollen: ausziehen. Eine Prozedur gegen den Besitzer braucht viel Zeit, das Ergebnis ist nicht im Voraus gewährleistet, und die Leute haben oft keine Kraft mehr zum Kämpfen. Sie haben schon so viel Ärger gehabt und wollen nichts mehr mit dem Vermieter zu tun haben. Aber jene, die erreichen wollen, dass ihre Wohnung saniert wird, die unterstützen wir und parallel dazu versuchen wir, ihnen zu einer Sozialwohnung zu verhelfen. So fahren wir zweigleisig."

    Eric Constantin fährt zurück ins Büro. Dort wird er eine Akte anlegen. Sollte sich Najjar doch noch zu einer Beschwerde bei der Polizeipräfektur entschließen, dann wird er alle Hebel in Bewegung setzen, damit das Loch im Boden abgesichert und die Feuchtigkeit beseitigt wird. Sonst nicht.


    "Der Abbé Pierre hat dieses Squatter-Unternehmen, das gewagteste seiner Karriere, ganz im Geheimen vorbereitet, nachdem ihm dieser Viadukt wegen Protesten der Nachbarschaft mehrmals verweigert worden war. Er und seine sogenannte Brüderschaft von Emmaus hat das erstaunliche vollbracht: Sie haben die Viaduktbögen im Verborgenen genau ausgemessen und in einem ihrer Heime genau passende Sperrholzwände, Decken, Fußböden und so weiter gezimmert, also richtige Fertighäuser, die nun vor meinen Augen eingepasst worden sind. Schon haben die Squatter begonnen, die ärmlichen Möbel, die sie besitzen, hereinzutragen. Hier werden jetzt schon die ersten Ofenrohre in genau vorbereitete Löcher durchgesteckt. Bei dieser Art von Improvisation, vor allem, wenn es gegen die Staatsgewalt geht, ist ja der Franzose Meister."

    Der Armenpriester Abbé Pierre galt als das soziale Gewissen Frankreichs. Seine Arbeit brachte viele auf den Plan, die bis heute gegen die Wohnungsnot kämpfen. Ein Helfer ohne Kutte ist Jean-Baptist Eyraud. Er trat in die Fußstapfen des Abbé und gründete den Verein "Droit au Logement", "Recht auf Wohnraum".

    Der Verein zerstört mit spektakulären Aktionen unter anderem Illusionen. Die Illusion etwa, dass es genüge, auf einer Warteliste für Sozialwohnungen zu stehen, um eines Tages ein bezahlbares Dach über dem Kopf zu haben. Und der Verein fordert radikale Dinge: Etwa die Beschlagnahme leer stehender Wohnungen. Eine entsprechende Verordnung dazu gibt es in Frankreich.

    Präfekt und Bürgermeister ist es erlaubt, leer stehende Gebäude zu konfiszieren. Jacques Chirac machte sich das Thema zu eigen, als er Mitte der 90er Jahre in den Wahlkampf um die Präsidentschaft zog. In seiner Amtszeit wurden 1200 Wohnungen beschlagnahmt. Bei Nicolas Sarkozy, dem Neuen im Elysee-Palast, stößt der Verein "Droit-au-Logement" allerdings auf Granit, wenn er bestehende Gesetze erinnert:


    Droit au Logement DAL
    Eine Grundschule in Bagneux, vier S-Bahnstationen südlich von Paris. Mehrere Dutzend Eltern warten an diesem Nachmittag vor dem Tor auf ihre Kinder. Am Rand steht Jean-Baptiste Eyraud. Er ist groß und breitschultrig, sein zerzauster, grauer Wuschelkopf hebt sich von der Gruppe ab. Die Rektorin sperrt auf, geht auf Mütter und Väter zu, lädt sie zum Kuchenessen in den Pausenhof ein. Die Schüler haben gebacken, aus Solidarität mit der Familie Moud.

    "Wir haben hier eine Familie, die am Montag aus ihrer Wohnung vertrieben wurd,e und die Schule versucht jetzt, ihr zu helfen. Die Familie hat vier Kinder, die zwischen acht und drei Jahre alt sind, also noch ganz jung."

    Auch Jean-Baptiste Eyraud folgt der Einladung, obwohl er keine Kinder in dieser Schule hat. Er ist eigens aus Paris gekommen. Denn er ist immer zur Stelle, wenn Menschen verteidigt werden müssen, die keine Wohnung haben. Die Lehrer stehen zusammen. Eyraud geht auf sie zu und berichtet, was er bereits unternommen hat.

    "Ich habe vorhin den Vizepräsidenten des Conseil General angerufen und ihm gesagt, dass die Lage in seinem Departement unerträglich ist. Dem Unterpräfekten habe ich eine E-Mail geschickt. Wir sind hier immerhin im reichsten Departement von ganz Frankreich."

    Die Rektorin nickt:

    "Das Departement Hauts-de-Seine ist sogar eine der reichsten Regionen weltweit, so viel Geld pro Einwohner gibt es hier!"

    "Und dieses Department vertreibt die Ärmsten. So kann das nicht weiter gehen."

    Eyraud hat ein zerfurchtes Gesicht mit leuchtend blauen Augen. Der 53-Jährige sieht aus wie einer, der schon viel erlebt hat. Und auf den man sich stützen kann.

    Nach Abitur und einer Lehre zum Zimmermann lebte "Babar", wie ihn seine Freunde nennen, mit Künstlern und Lebenskünstlern in der Pariser Hausbesetzerszene. Zu dieser Zeit brannten zwei Mietshäuser in der Nachbarschaft aus, es waren Elendsquartiere für Einwandererfamilien. Zwei Menschen starben, viele wurden obdachlos. So entdeckte Eyraud das Problem der Wohnungsnot - und fand seine Berufung. Er brachte die Familien in einem leer stehenden Haus unter. Bald darauf gründete er den Verein "Droit au logement", eine Gewerkschaft, sagt er, der Wohnungssuchenden.

    18 Jahre ist das jetzt schon her. Aber Eyraud ist nicht müde geworden, das Recht auf Wohnraum einzufordern, und die Ausgrenzung der Ärmsten empört ihn bis heute.

    "Die Behörden gehen immer härter vor. Sie setzen die Menschen so schnell wie möglich auf die Straße, ohne dafür zu sorgen, dass die Familien aufgefangen werden. Schlimmer noch: Die Sozialhelferin hat die Familie Moud gedrängt, ihre Kinder dem Jugendamt zu übergeben, weil es angeblich keine andere Lösung gibt. So treibt sie die Familie fort. Die Eltern haben jetzt Angst, dass man ihnen die Kinder wegnimmt."

    Der stellvertretende Bürgermeister von Bagneux kommt in den Schulhof, ein Kommunist. Er schüttelt Hände, demonstriert Anteilnahme. Eyraud redet auf ihn ein, drängt zum Handeln. Auf einmal grinst er wie ein großer Junge. Er hat eine Idee.

    "Ein Bürgermeister hat doch Polizeivollmacht - er kann Wohnungen beschlagnahmen. Später annulliert der Staatsrat die Entscheidung natürlich, aber in der Zwischenzeit ist die Familie versorgt. Warum handeln Sie nicht? Ich kann Ihnen alle Informationen darüber schicken, wir haben die ganze Rechtsprechung gesammelt. Ich sag es Ihnen noch einmal: Der Bürgermeister hat Polizeivollmacht."

    Ein Blick in den Terminkalender: Eyraud hat eine Sitzung zu Wohnungsfragen im Pariser Rathaus notiert. Und für den Abend ruft "Droit au logement" zu einer Protestveranstaltung auf. Er verspricht der Familie Moud, dass er nicht locker lassen wird, bis sie ein Dach über dem Kopf gefunden hat. Dann nimmt er sein Motorrad und taucht unter in den Autokolonnen nach Paris.

    Es ist 19 Uhr. Feierabend im Viertel der Banken und Presseagenturen. Auch die alte Börse von Paris schließt die Tore. Gleich neben dem neoklassizistischen Säulentempel versperren zwei Mülltonnen die Einfahrt in die Rue de la Banque: In der "Straße der Bank" haben sich rund zweihundert Menschen versammelt. Viele Frauen und Kinder sind zu sehen, die meisten sind schwarz. Ein gelber Sticker weist sie als Mitglieder von "Droit au Logement" aus. Die Menge skandiert, dass sie die Schnauze voll hat vom Leben in Elendsquartieren und Hotels. Eine Fernsehkamera filmt ihren Protest.

    Eyraud steht vor einem sechsstöckigen Gebäude im Haussmannstil. An der großbürgerlichen Fassade flattern gelbe Banderolen: "Wohnungen für alle" steht darauf, und: "Wendet das Gesetz zur Beschlagnahme von Wohnraum an". Außerdem ein riesiges Porträt der Marianne in blau-weiß-rot, darüber steht "Ministerium für Wohnungsnot".

    Anderthalb Jahre ist es jetzt her, dass "Droit au logement" das Gebäude besetzt und dort sein Büro eingerichtet hat. Es gehörte einer Bank und hatte jahrelang leer gestanden. Inzwischen hat sich die Stadt Paris dem Druck gebeugt: Sie hat das Haus gekauft und versprochen, dort Sozialwohnungen einzurichten.

    Es beginnt zu regnen. Jean-Baptiste Eyraud geht ins Haus, sucht Plastikplanen. Vielleicht, so meint er, wollen die Familien heute Nacht wieder in der Straße übernachten, um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen. Nach 18 Jahren mühsamer Lobbyarbeit macht er sich keine Illusionen: Nur durch Druck und Medienrummel kann er den hier unerwünschten Menschen Gehör verschaffen.

    "Viel haben wir nicht erreicht. Mehr als zehntausend Familien wurden einquartiert, das ist wenigstens ein konkretes Ergebnis. Aber unser kleiner und mittelloser Verein der Armen hat es bisher nicht geschafft, die Politik entscheidend zu beeinflussen. Trotzdem geben wir nicht auf. Endlich ist die Öffentlichkeit auf die Wohnungskrise aufmerksam geworden und neue Vereine greifen das Thema auf. Wir hoffen, dass Frankreich nicht nur unrealisierbare Gesetze erlässt, sondern das Recht auf "Wohnraum für alle" eines Tages tatsächlich verwirklichen wird."

    Eyraud nimmt die Plastikplanen und geht hinaus zu den Familien im Regen.



    "Dieses ganze Squatter-Kommando steht unter dem Oberbefehl eines Priesters, wie überhaupt die ganze Emmaus-Bewegung, die immerhin im vorigen Jahr über 5000 Familien Wohnungen verschafft hat. Allerdings ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich habe da einige Statistiken in der Hand: Allein, um den Geburtenzuwachs aufzunehmen, bräuchte Frankreich 75.000 neue Wohnungen im Jahr. Man hat sich ausgerechnet, dass das Land 300.000 Wohnungen jährlich ein Menschenalter hindurch bauen müsste, um überhaupt auf Gleich zu kommen und selbst im außergewöhnlich guten vergangenen Baujahr hat man es nur auf 200.000 gebracht."

    Statistiken sind das eine. Die Realität das andere. Statistisch möchte Frankreich die Zahl der Wohnungseigentümer von jetzt 57 auf 70 Prozent erhöhen. Ein Instrument dazu ist der Verkauf von Sozialwohnungen, die bis dato als Einheit geführt wurden. Ganze Wohnblocks werden so in ihre Einzelteile zerlegt und die Wohnungen am Markt angeboten. Die Mieter haben Vorkaufsrecht, aber meist kein Geld. Für jede verkaufte Sozialwohnung soll andernorts eine neue gebaut werden. Ein schwacher Trost für die Betroffenen.

    Auch Fontenay-sous-Bois ist betroffen. Die kommunistisch regierte Vorstadt im Osten von Paris grenzt an die grüne Lunge, an den "Parc de Vincennes". Hier finden sich gutbürgerliche Einfamilienhäuser neben Wohnsilos. Und hinter deren Fassaden mischen sich Einwandererfamilien mit solchen, die einen mittleren bis kleinen Geldbeutel haben. Einer dieser Wohntürme wird nun auch in seine 106 Wohneinheiten zerlegt und Stück für Stück verkauft:


    Angst vor dem Zerstückelungsverkauf
    Ein Dutzend Hochhäuser säumen die Straße Jean Macé, grau und beige verputzte Türme. Einige sind Sozialwohnungsbauten, andere nicht. Mit ihren schmalen Balkonen und den billigen Kunststoff-Jalousien gleichen sie sich alle. Nur die Nummer sieben fällt aus der Reihe. An der Fassade sind Banderolen befestigt: "Mieter in Wut" heißt es auf Plakaten und Bettlaken, "Stoppt den Ausverkauf" und "Keine Eigentumswohnungen".

    Gerade einmal zwei Aufzüge bedienen die 18 Stockwerke mit ihren 106 Wohnungen. In der zwölften Etage wohnt - seit 13 Jahren schon - die Familie Sassi: Die Eltern sind in Rente, zwei erwachsene Kinder wohnen noch zuhause. Der Vater, ehemals Tischler, geht mühsam am Stock. Neziha, die Mutter, arbeitete früher als Postbeamtin. Die schlanke Frau mit dem Haarreif im rotbraunen Haar steht im Wohnzimmer und hält den Brief in der Hand, der die Familie wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen hat.

    "Dieses Schreiben von der Grundeigentumsgesellschaft haben wir im April erhalten. Sie besitzt drei Hochhäuser in der Rue Jean Macé: die Nummer drei, die Nummer fünf und die sieben. Sie haben beschlossen, die Nummer sieben zu verkaufen."

    Schon eine Woche später, erzählt Neziha Sassi, wurde ein Informationsabend veranstaltet, die Mieter erfuhren den Preis: 2.500 Euro pro Quadratmeter sollen die Wohnungen kosten. Langjährige Mieter können einen Nachlass von maximal 20 Prozent erhalten. Aber die Familie Sassi kann das Geld für ihre Vier-Zimmer-Wohnung - immerhin 210.000 Euro - nicht aufbringen und den meisten Nachbarn ergeht es ähnlich. Zumal enorme weitere Kosten anstehen.

    "Es ist eine Katastrophe: 106 Wohnungen, 100 Familien. Wer kauft, der muss alles neu machen. Die Wohnungen sind in einem miserablen Zustand, eine Windböe genügt, schon gehen die Fenster auf. Die Zimmer werden nicht warm, die Rohrleitungen sind völlig veraltet und die Aufzüge nicht konform. Sie verkaufen ein Gebäude, das verwahrlost. Aber das ist denen ganz egal."

    Es ist ein Teufelskreis: Das Hochhaus verkommt, weil niemand investiert. Der Verkauf jedoch, das jedenfalls befürchten die Bewohner, wird so ungeheure Folgekosten nach sich ziehen, dass die Mieten für jene, die hier wohnen bleiben wollen, unbezahlbar werden.

    Es ist 19 Uhr, die Tochter kommt nach Hause. Asma studiert Ethnologie. Sie hat die Universität früher als sonst verlassen, weil eine Mieterversammlung ansteht. Kürzlich, sagt sie, kam schon wieder ein Brief.

    "Mit einem Coupon zum Zurückschicken. Da haben viele geglaubt, es sei der offizielle Brief mit dem Kaufangebot, und es hat einen Anflug von Panik gegeben: "Der Brief ist da! Was sollen wir tun?" Die Bewohner wurden darin aufgefordert, anzukreuzen, ob sie kaufen wollen, umziehen oder aber als Mieter hier bleiben wollen. Aber zu welchen Bedingungen? Niemand weiß, welche Ausgaben auf ihn zukommen, nichts wurde erklärt. Dabei handelt es sich um eine Entscheidung, die das Leben der Menschen beeinflusst."

    Asma lacht freundlich, trotz der angespannten Situation. Sie hat Sommersprossen, die halblangen Haare hat sie locker zu einem Knoten gebunden, über der schwarzen Dreiviertelhose trägt sie eine leuchtend rote Bluse. Die 28-Jährige spricht ruhig und bedächtig. Aber die Missachtung, mit der die Immobilienverwaltung ihre Eltern und die übrigen Mieter behandelt, hat sie so empört, dass sie ihre Diplomarbeit zur Seite geschoben und sich in die Themen Mietrecht und Mieterschutz vertieft hat.

    Zusammen mit vier weiteren Bewohnern, alles junge Leute, versucht sie jetzt, die Prozedur zu Fall zu bringen: Der Mieterverein verfasste eine Petition gegen den Verkauf, er forderte die Bewohner auf, die Briefe der Gesellschaft zu ignorieren. Er bat den Bürgermeister um Hilfe, suchte Unterstützung beim Parlamentsabgeordneten.

    Vor wenigen Tagen konnte der Verein ein Gespräch mit einem Direktor der Eigentümergesellschaft durchsetzen. Jetzt sollen die Mieter informiert werden. Asma geht zum Esstisch, nimmt einen Stuhl, und trägt ihn zum Aufzug - ihr behinderter Vater will auch an der Mieterversammlung teilnehmen. Sie fährt ins Erdgeschoß.

    Die Eingangstür müsste geölt werden, aber seit Jahren gibt es keinen Hausmeister mehr. Einzelne Bewohner kommen nach Hause, sie tragen Baguette in der Hand oder Einkaufstüten. Asma und ihre Kollegen stellen in der Eingangshalle Tische auf, legen die Petition aus. Rund 50 Mieter sammeln sich. Unter ihnen eine blonde junge Frau, Caroline ist in dem Hochhaus aufgewachsen.

    "Meine Mutter wohnt seit 33, nein, seit 34 Jahren hier. Als der Brief kam, hat sie gleich gesagt: Aber ich hab die Wohnung doch schon gekauft. Mit dem, was sie an Miete gezahlt hat, wäre das Apartment viermal abbezahlt. Aber jetzt will sie nicht kaufen, nicht in einem 18-stöckigen Hochhaus."

    Asma nimmt ihren Notizblock in die Hand, resümiert. Die Gesellschaft hat den Verkauf von landesweit insgesamt 14.000 Wohnungen angekündigt. Der Direktor sei überrascht gewesen, dass die Mieter der Rue Jean Macé Widerstand leisteten, nirgendwo sonst habe es Proteste gegeben.

    Das habe er als Vorwurf gemeint, sagt Asma und lacht vergnügt. Sie aber fasse als Kompliment auf. Immerhin sei es ihnen jetzt gelungen, den Beginn der Verkaufsprozedur von September auf Oktober zu verschieben. Ein Monat mehr, um Alternativen zu finden. Der Mieterverein drängt darauf, dass das Hochhaus an eine Sozialwohnungsbaugesellschaft verkauft wird. Dann könnten die Mieter bleiben und der Unterhalt des Gebäudes wäre gesichert. Aber dazu sei die Gesellschaft nicht bereit: Der Zerstückelungsverkauf auf dem freien Markt wirft mehr Geld ab.

    Zurück in der Wohnung. Mutter und Tochter gehen auf den Balkon. Der Blick fällt auf die anderen Hochhäuser, seitlich schließt sich ein Viertel mit Grünanlagen und kleinen Häusern an. Eine Schule ist zu sehen, ein paar Straßen weiter liegt ein großes Einkaufszentrum und die Station der S-Bahn. Bis ins Hallenviertel von Paris braucht die Schnellbahn nur eine Viertelstunde. Jetzt, wo die Mieten in Paris unerschwinglich geworden sind, wird selbst das Hochhausviertel immer attraktiver, sagt Asma.

    "Wir haben ja nichts dagegen, dass Mieter zu Eigentümern werden. Aber hier stimmen die Bedingungen nicht. Hier wird alles überstürzt, weil die Eigentümergesellschaft ihren Besitz abstoßen und dabei Gewinn machen will. Die spekulieren auf Kosten der einfachen Leute. Hinzu kommt, dass die Randbezirke von Paris derzeit aufgewertet werden. Das führt dann dazu, dass sich die Mittelklasse in Vierteln wie diesem niederlassen kann und die einkommensschwachen Familien verdrängt werden. "

    Asma zeigt nach unten, auf Plätze und Dächer: Wo früher Asphalt war, legt die Stadt jetzt Rasen an. Kinder auf Fahrrädern sind zu sehen, eine Frau schiebt einen Kinderwagen.

    Der Blick sei einmalig, meint die Tochter. Sie wolle nicht fort, sagt die Mutter. Der Gedanke, hier auszuziehen, zerreiße ihr das Herz.



    "Während ich nun zu Ihnen gesprochen habe, sind wirklich zwei Polizisten mit ihren Fahrrädern angefahren gekommen, die sich jetzt die getane Arbeit mit Achselzucken betrachten, Monsieur… , Dieser Polizist sagt also, dass er persönlich, ganz diese Arbeit des Abbé Pierre billigt, aber natürlich weiß man nicht, ob die persönliche Meinung eines kleinen, Pariser Polizisten ausschlaggebend sein wird. Immerhin darf man hoffen, dass die Arbeit, die heute Nacht hier vollbracht wird, nicht vergeblich ist, und dass diese zwei Familien wenigstens über den scharfen Winter von Frankreich Unterkunft finden werden."

    Hotelleben klingt nach Erholung, klingt nach Urlaub. Nicht für die 12.500 Menschen, die in französischen Billig-Herbergen zusammengepfercht leben müssen, darunter viele Kinder. 75 Millionen Euro hat es sich der französische Staat im vergangenen Jahr kosten lassen, die sozial Schwachen in Hotels unterzubringen, weil selbst billigster Wohnraum knapp ist.

    Die Subvention des Staates ist für die Betroffenen mehr Fluch als Segen, denn einen Ausweg gibt es selten. Das Hotel erweist sich für viele als Sackgasse und nicht als Übergang in die eigenen vier Wände. In die Schlagzeilen geriet das Thema vor drei Jahren, als es brannte in zwei dieser Hotels:


    Leben im Hotel
    Es ist eine einfache Pension ohne Stern. Hotel Dauphine steht über der Tür. Im Fenster hängt ein handgeschriebener Zettel mit den Tarifen: Ein Einzelzimmer mit Dusche und WC kostet 45 Euro, für jedes zusätzliche Bett kommen zehn Euro hinzu, je nach Saison können die Preise schwanken.
    Das Foyer ist kahl und schäbig. In einem Ständer stecken Faltblätter über den Eiffelturm, über Bootsfahrten auf der Seine und Disneyland. Broschüren für Touristen, nur dass hier schon lange kein Tourist mehr übernachtet hat. Das Hotel ist ständig ausgebucht.

    Hinter der Empfangstheke sitzt ein Mann und blättert gelangweilt in einer Zeitschrift. Monsieur Fofana? Zimmer Nummer 30, sagt er auswendig. Er kennt seine Kunden. Sie wohnen über Monate, ja sogar Jahre hier. Im Treppenhaus hängt ein Zettel: "Aus Sicherheitsgründen ist das Kochen in den Zimmern strengstens verboten."

    Im dritten Stock öffnet Ousmane Fofana die Tür. Er ist groß, der blau-weiß gestreifte afrikanische Boubou flattert um den schlanken Körper, ein akkurat geschnittener schmaler Kinnbart verleiht ihm einen seriösen Ausdruck.

    Das ist unser Schloss, sagt er lachend und lädt mit einer Handbewegung zum Sitzen auf dem Doppelbett ein. Das Zimmer ist voll: Ein weiteres Bett und ein Regal mit einem Fernseher stehen an der Wand. Ihre Siebensachen hat die Familie in einem Stoffschrank mit Reißverschluss verstaut. In einer Ecke sind Plastikkisten aufeinander gestapelt. Das Spielzeug der drei Kinder passt in eine Tragetasche. Ein kleiner Hotelkühlschrank steht im Zimmer. Für Tisch und Stühle ist kein Platz.

    "Von Februar 2007 bis 2008 waren wir in 14 Hotels. Dies hier ist unser 15. Hotel. Entschieden haben das jeweils die Sozialarbeiter der Stadt. Zuerst haben sie uns hin und her geschickt. Seitdem wir hier gelandet sind, ist unsere Lage einigermaßen stabil."

    Auf und neben den Betten spielen die Kinder: Mouhamadou ist sechs Jahre alt und geht in die zweite Klasse, sagt der Vater, Tschigi ist vier und Salim, der Jüngste, wurde vor 14 Monaten geboren, er hat nie woanders als im Hotel gelebt.

    "Die Kinder sind ganz durcheinander, weil wir keine Wohnung haben. Ich habe dafür gesorgt, dass sie trotzdem immer in dieselbe Schule gehen konnten, selbst wenn wir Bus und Metro nehmen mussten, um sie hinzubringen. Das war auch richtig, denn zum Schuljahresende haben uns die Lehrer gesagt, dass sie gut gelernt haben!"

    Ousmane Fofana ist vor 19 Jahren aus Guinea nach Frankreich gekommen. Damals war er Anfang 20 und hatte die Hoffnung, wie er sagt, in Europa ein besseres Leben zu finden.

    "Aber wenn man erst einmal hier ist, stellt man fest, dass es hier auch viel Leid gibt."

    Er nahm jede Arbeit, die er fand und besitzt inzwischen eine zehn Jahre währende Aufenthaltsgenehmigung. Heute bezahlt ihm die Stadt Paris eine Fortbildung zum Reinigungsfachmann.

    Vor fünf Jahren schon hat Ousmane eine Sozialwohnung beantragt. Um seinem Wunsch Nachdruck zu verleihen, schrieb er an den zuständigen Minister und an den Präfekten. Doch es half nichts: Er wartet immer noch. Damals lebte die Familie in einer Wohnung, die er privat gemietet hatte. Doch die Besitzerin kündigte ihnen, seither findet er keine Wohnung mehr. Umso mehr fuchst es ihn, dass das Jugendamt Unsummen für das Hotel bezahlt. Vor kurzem genehmigten die Sozialarbeiter der Familie ein zweites Zimmer.

    "Die beiden Zimmer kosten 3.700 Euro im Monat. Die Stadt zahlt mir 700 Euro für die Fortbildung, aber die fließen komplett in die Hotelmiete, hinzu kommt noch ein Teil vom Kindergeld, alles in allem zahle ich 890 Euro für das Hotel. Egal, wie viel einer verdient: Das Jugendamt kalkuliert immer so, dass einer Familie fünf Euro pro Tag und pro Person bleiben, wir haben also 750 Euro im Monat zum Leben. Das übrige Geld wird uns abgenommen. Und was noch fehlt, übernimmt das Jugendamt, um das Hotel zu bezahlen."

    Aus dem Gang tönt Kindergeschrei. Seine Nachbarin, sagt Fofana, hat vier Kinder und zahlt 4000 Euro im Monat. 33 Familien mit unzähligen Kindern leben im Hotel Dauphine. Für den Besitzer sind sie eine wahre Goldgrube.

    Ousmanes Frau kommt ins Zimmer, sie trägt zwei Tüten mit Lebensmitteln. Kadiatou ist eine bildhübsche Frau, die Haare hat sie zu kleinen Zöpfen geflochten, die in einem Knoten stecken. Zum blauen Batikkleid trägt sie große goldene Ohrringe und eine goldene Kette. Sie stellt die Tüten im Badezimmer ab. Gleich neben dem Klo steht ein Regal mit einem Müslischachteln. In der Dusche sind Töpfe und Geschirr gestapelt. Der Jüngste kommt, nimmt einen Teller in die Hand.

    "Nein, Salim, das sind nicht deine Spielsachen, das ist mein Geschirr, spiel im Zimmer."

    Die Schwester zieht eine Spieluhr auf, um das Baby herauszulocken. Kadiatou geht zum Bett, bückt sich, zieht zwei Plastiktüten hervor, darin stecken eine Kochplatte und ein Reiskocher.

    "Die Kochplatte verstecke ich unter dem Bett, damit der Hotelbesitzer sie nicht sieht. Ich koche immer abends, wenn er fort ist, damit er nichts riecht. Ich stecke die Elektroplatte im Bad an, aber da kann das Baby herein. Ich muss den Kleinen im Buggy festschnallen, damit er sich nicht verbrennt. Ich kann nicht jeden Tag kochen, das ist zu gefährlich. Deshalb bereite ich die Sauce immer für drei oder vier Tage vor."

    Einen Stock tiefer, sagt Ousmane, lebt eine Familie, die seit acht Jahren im Hotel ist. Es gebe auch mehrere alleinerziehende Mütter hier. Denn das Leben im Hotel macht viele Ehen kaputt.

    "Eine Familie braucht eine Wohnung, damit sie ihre Intimität wahren kann. Es ist unwürdig, im Hotel zu wohnen, jederzeit kann jemand an die Tür klopfen und eintreten. Jedes Kommen und Gehen wird kontrolliert. Warum lassen sie Familien wie uns jahrelang leiden und verschleudern soviel Geld? Das nützt weder der Stadt noch der Regierung noch den Familien. Warum finden sie für uns keine Wohnung auf dem freien Markt, das würde höchsten 1500 Euro kosten."

    Ousmane öffnet die beiden schmalen Fenster, stellt den Ventilator an. Aus dem Bad zieht der Duft von gekochten Erdnüssen ins Zimmer. Die Kinder nehmen Teller auf den Schoß und setzten sich auf das Bett.



    Elend im Land der Eleganz. Das waren "Gesichter Europas" über die Wohnungsnot in Frankreich. Mit Reportagen von Bettina Kaps, die Musikauswahl hat Babette Michel getroffen. Am Mikrofon war Ursula Welter.