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Elfriede Jelineks "Schutzbefohlene" in Bochum
Vom hilflosen Zappeln in einer schwindelerregenden Gegenwart

Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer hat in Bochum erstmals alle vier Teile von Elfriede Jelineks "Schutzbefohlenen" zusammen aufgeführt. Eine Inszenierung, die sich durchaus auf der Diskurshöhe der Ratlosigkeit befindet, meint unsere Kritikerin. Der Abend, der all die schweren Fragen der Flüchtlingspolitik thematisiert, sendet Schockwellen ins Gehirn - am Ende bleibt man aber dennoch distanziert zurück.

Von Dorothea Marcus | 11.04.2016
    Das Schauspielhaus in Bochum
    Das Schauspielhaus in Bochum (dpa / picture alliance / Horst Ossinger)
    "Das Boot… es wackelt, das Boot, es schwankt… das Boot zittert vor Angst… nein, es schwankt, weil diese Leute nicht ruhig sitzen können…"
    Sie tauchen auf aus einer umnebelten Welt und beschreiben so langsam, wie man Jelinek-Texte selten hört, wie es sich anfühlt, wenn das Boot vollläuft. Und voll ist. Und dabei auch noch der europäische Grund wankt. Die Jelinek-Figuren, die Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in Bochum entworfen hat, sind das Gegenteil von Zeitzeugen. Sie tragen spitzenbesetzte Reifröcke und weißgepuderte Turmfrisuren, als seien sie direkt der Französischen Revolution entsprungen. Weiter könnten Text und Figuren nicht voneinander entfernt sein. Aber schließlich sind Flüchtlingserfahrungen von denen reicher Europäer ja auch Welten entfernt. Zumal von denen der Nobelpreisträgerin Jelinek, die nie ein Hehl daraus gemacht hat, dass sie abgeschottet und wenig hilfsbereit in ihrer Wiener Wohnung vor dem Bildschirm sitzt, niemals teilt, immer nur austeilt - wie sie sagt.
    "Jeden Tag ändere ich meine Anschauungen. Gestern waren es alles noch Menschen… heute kann ich sie nicht anschauen. Und schon beginnt das Unrecht sich zu erheben. Ich weiß es nicht… es sind so viele…"
    Ein zynischer Wettkampf
    Die mit viel Glitzer ausstaffierte Schauspielerin Xenia Snagowski formuliert immer wieder zwischendurch Jelineks eigene, fast tagebuchartigen Zweifel und Überforderungsgefühle, die sie in ihre vier Schutzbefohlenen-Texte eingestreut hat. Insofern befindet sich die Bochumer Jelinek-Aufführung durchaus auf der Diskurshöhe der Ratlosigkeit. Ansonsten herrscht auf der Bühne ein extremes Bilder- und Bezugsgewitter. Da führt Schauspieler Dennis Herrmann geschmeidig eine Power-Point-Präsentation der europäischen Werte vor. Da fallen nackte Babypuppen von oben aus einem Mittelmeertrichter über der Bühne, immer mehr, bis sie alle und alles bedecken wie eine Insektenplage. Ein Bild, das westliche Ängste zusammenfasst und sie irgendwie sogar hervorruft: In einer solchen unkontrollierbaren Masse wirken hörbare Einzelschicksale plötzlich wie Schädlinge. Aber dann können die Puppenmassen doch einfach zusammengekehrt und hinter einem Gartenzaun entsorgt werden. Verstörend genau ist so die Wegseh-Haltung auf den Punkt gebracht, mit der Deutschland von den Balkan-Grenzschließungen profitiert. Mit wie viel Elend erreicht man überhaupt Asylberechtigung? Ein zynischer Wettkampf wird da vorgeführt.
    "Sie glauben nicht, dass das meine Cousins sind? Ich hab Zeugen! Meine Familie hat das Video! Die gibt es aber jetzt nicht mehr, meine Familie! Die sind jetzt alle tot! Das ist ja noch gar nichts gegen all die anderen Leiden… die natürlich noch länger gedauert haben…"
    An Einfällen ist kein Mangel
    Der Abend gibt keine Antwort auf all diese schweren Fragen, rast zwischen den Diskursen hin und her. Helene Fischer singt harmlosen Brachialpop atemlos über die Bühnenbildschirme, direkt daneben werden drastische Szenen von atemlos flüchtenden Kriegsopfern eingeblendet - so sind nun einmal die Gegensätze in der Welt. Dreißigfach vervielfältigt sich der rechthaberisch nickende Donald Trump auf den Bildschirmen, singt Anna Netrebko zu syrischen Trümmerlandschaften, werden in sächsischem Dialekt AfD-Programmpunkte zu humoristischen Knallern.
    An Einfällen ist kein Mangel, lustvoll werden auch die Rassismen vorgeführt, die in den letzten Monaten medial hochgespült werden. Flüchtlinge verschmutzen deutsche Schwimmbäder und entehren deutsche Frauen. Wenn dann ein Flüchtling oder so ähnlich in Stiermaske und meterlangem Geschlechtsteil auf die Bühne kommt, winden sich die Schauspieler dann doch in ekstatischen Lustängsten.
    Es ist ein extremer Abend, der die gegenwärtige Ratlosigkeit einzufangen versucht. Er sendet Schockwellen ins Gehirn. Die verenden dort allerdings auch schon bald wieder. Denn all das ist medial schon längst diskutiert worden, es lässt einen eher distanziert zurück. Vielleicht wäre es glaubwürdiger gewesen, wenn die Schauspieler eigene Zweifel ins Spiel gebracht hätten, anstatt sich theaternd hinter Rokoko-Kostümen und AfD-Kabarettnummern zu verstecken. Denn das hilflose Zappeln in einer schwindelerregenden Gegenwart - das betrifft wohl jeden von uns.