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Elif Shakaf: "Unerhörte Stimmen"
Der Film des Lebens

Die Stärken von Elif Shafaks Erzählen liegen nicht in Stil und Komposition. Sie überzeugt vor allem mit der stets spürbaren Entschlossenheit, gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten mit literarischen Mitteln entgegenzutreten. So auch in ihrem neuen Roman "Unerhörte Stimmen".

Von Eberhard Falcke | 25.07.2019
Buchcover: Elif Shafak: "Unerhörte Stimmen"
Elif Shafak und ihr neuer Roman "Unerhörte Stimmen" (Foto: imago/Leemage/Leonardo Cendamo, Buchcover: Kein & Aber Verlag)
Es ist ein Ende mit Schrecken, auf den der Schrecken ohne Ende hinausläuft, den die türkischen Herrschaftsverhältnisse für Frauen und andere Außenseiter vorsehen, die sich der Ordnung des Patriarchats nicht fügen wollen. Die Frau landet im Müll. Mit diesem ins drastische Bild gefassten Fazit eröffnet Elif Shafak ihren neuen Roman "Unerhörte Stimmen". Im Grauen eines neuen Morgens findet sich Leila, die Heldin des Romans, gleich auf den ersten Seiten erwürgt von einem Unbekannten in einer Abfalltonne am Stadtrand von Istanbul wieder:
"Wie war es möglich, dass sie nicht mehr existierte? Nur wenige Stunden zuvor hatte sie gesungen, geraucht, geflucht und gedacht … und ihre Gedanken setzten sich ja auch jetzt noch fort. Erstaunlich, wie gut ihr Gehirn funktionierte – nur, wie lange noch?"
Heiliger Krieg im Elternhaus
Tatsächlich steckt noch Leben in Leilas Gehirn, obwohl ihr Herz nicht mehr schlägt. Das soll es geben, darüber hat sich die Autorin bei der Wissenschaft informiert und darauf hat sie das Erzählkonzept in diesem Roman aufgebaut. Bevor auch ihr Gehirn nach den letzten zehn Minuten und 38 Sekunden, beziehungsweise 17 Romankapiteln, den Geist aufgibt, lässt Leila in der Erinnerung ihr Leben Revue passieren und damit zugleich die 43 Jahre türkischer Gesellschaftsgeschichte, die sie miterlebt hat.
Geboren wurde Leila 1947 in der ostanatolischen Stadt Van. Ihr muslimisches Vaterhaus mit zwei Ehefrauen war zugleich ein Treibhaus der Kränkungen, Gängeleien und Traumatisierungen. Ihr Vater beschloss, dass sie als Kind seiner unfruchtbaren ersten Frau ausgegeben wurde, was die junge leibliche Mutter in den Wahnsinn trieb. Als der Vater sich enttäuscht von den kemalistischen Modernisierungen abwandte und zum glaubenseifrigen Muslim wurde, zog ein verschärftes patriarchalisches Regiment ein – mit den üblichen Folgen. Einerseits wurde es hingenommen und vertuscht, dass ein Onkel die Nichte Leila seit ihrem sechsten Lebensjahr missbrauchte und sie noch dazu als Verführerin beschuldigte. Andererseits wurden Moral und Ehre ebenso bigott wie unerbittlich verteidigt:
"So begann Babas häuslicher heiliger Krieg. Ab sofort galten neue Regeln. Leila durfte nicht mehr bei der Apothekerin fernsehen und keine Zeitschriften mehr lesen, am allerwenigsten die beliebte Illustrierte Hayat. Gesangs- und Schönheitswettbewerbe, Sportveranstaltungen – alles unmoralisch."
Um zu unterstreichen, dass diese Szenen einer schwarzen muslimischen Pädagogik außerdem auf dem Boden einer anderen Gewaltgeschichte stattfanden, gibt die Autorin wie in fast allen ihren Büchern auch hier zumindest einen Hinweis auf den Völkermord an den Armeniern: gehörte doch das Haus, in dem Leila aufwuchs, einst einem armenischen Arzt und seinen Angehörigen, die vor dem Ersten Weltkrieg plötzlich verschwanden.
Istanbul, die Stadt der Unzufriedenen und Träumer
Als Leila die Schule nicht mehr besuchen durfte, von ihrem Vater als Hure beschimpft wurde und mit einem Jungen verheiratet werden sollte, floh sie mit sechzehn aus dem Elternhaus nach Istanbul. Dort landete sie prompt als Prostituierte im Rotlichtviertel. Entscheidend jedoch war, dass sie sich von den religiösen und traditionellen Zwängen emanzipieren konnte. Vor allem aber gelangt die Erzählerin Elif Shafak mit diesem Wechsel des Schauplatzes in das von ihr geliebte geschichtsträchtige und dennoch freizügige Istanbul. Diese Metropole und ihre Atmosphäre, von der es im Roman einmal heißt, dass dort "alle Unzufriedenen und Träumer irgendwann landeten", wird durch die Schilderung von Stadtvierteln und historischen Schlüsselereignissen immer wieder vergegenwärtigt. So geht Leila mit ihrem Freund Ali auf die Demonstration am 1. Mai 1977, die von nicht identifizierbaren Bewaffneten in das berüchtigte Taksim-Massaker verwandelt wird
"In diesem Augenblick ertönte ein durchdringendes Rattern. In den höheren Etagen des Intercontinental Hotels waren hinter Schutzwänden Scharfschützen postiert, die mit automatischen Gewehren in die Menge schossen. Ein Schrei zerriss das verdutzte Schweigen der Demonstranten. Dann brüllte jemand, alle sollten weglaufen, und sie rannten los, ohne zu wissen, wohin."
Ein Freundinnenkreis als Gegenkultur
Elif Shafak gruppiert um ihre Protagonistin Leila herum ein kosmopolitisch-multikulturelles Ensemble von Außenseitern, die allesamt ihre Unterdrückungserfahrungen gemacht und ihre Konsequenzen daraus gezogen haben. Nostalgie-Nalan ist ein Ein-Meter-Neunzig-Mann, der zur Frau geworden ist. Sabotage Sinan, Leilas Jugendfreund aus Van, wurde ebenfalls von den Freiheitsversprechungen der Großstadt nach Istanbul gelockt. Die Somalierin Jamila kam aus einer zerrissenen christlich-muslimischen Familie an die Pforten Europas, ebenso wie die kleinwüchsige Zayneb aus dem Libanon. Und der Kommunist Ali hat schon alle Migrationsstationen hinter sich, nicht zuletzt Deutschland. Sie alle unterstützen sich gegenseitig und verkörpern im Roman so etwas wie eine Gegenkultur zu den von politischer Gewalt und Repressionen gezeichneten gesellschaftlichen Verhältnissen. Daraus hat Elif Shafak den roten Faden von Leilas Geschichte gesponnen:
"Leila hatte es den anderen nie gesagt, doch sie waren ihr Sicherheitsnetz. Wenn sie stolperte oder fiel, standen sie bereit und fingen sie auf oder milderten die Wucht des Aufpralls"
Für Elif Shafaks Schreiben ist es charakteristisch, dass sie ganz unterschiedliche Erzählverfahren verbindet. Wenn es um die Perspektive und Psychologie der Figuren geht, bedient sie sich der geläufigen literarischen Mittel; in Atmosphäre und Stimmungsbildern dominieren orientalische Bildhaftigkeit; und in manchen Handlungsmomenten finden sich einige Noten von Magischem Realismus.
Mit Literatur gegen Ungerechtigkeit
Damit gelingt es der Autorin, die im Romantitel genannten "Unerhörten Stimmen" der Ausgegrenzten auf zuweilen ergreifende Weise hörbar zu machen. Zugleich sind jedoch die Grenzen ihrer Erzählkunst unübersehbar. Die Familienszenen bewegen sich im Rahmen einer zwar treffenden aber kleinteiligen Genremalerei. Vor allem aber werden die zahlreichen Themen, Motive und Szenen der sich über Jahrzehnte erstreckenden Romanhandlung nicht gerade virtuos verknüpft, sondern eher schlicht aneinandergereiht.
Am Ende wechselt die Autorin dann noch einmal die Tonlage, wenn sie den Streit zwischen den Behörden und Leilas Freunden um eine ehrenvolle Bestattung in einem Nachspiel als makabre Friedhofskomödie inszeniert. Zweifellos: Die Stärken von Elif Shafaks Erzählen liegen nicht in Stil und Komposition, sondern in der Vielfalt der Themen, Stimmungen und Perspektiven, vor allem aber in der stets spürbaren Entschlossenheit, gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten mit literarischen Mitteln entgegenzutreten. Dadurch wird die türkische Passionsgeschichte einer Frau, die in diesem Roman erzählt wird, zu einem Leseerlebnis, das in Erinnerung bleibt.
Elif Shafak: "Unerhörte Stimmen".
Aus dem Englischen von Michaela Grabinger
Verlag Kein & Aber, Zürich & Berlin. 432 Seiten 24,00 Euro.