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Ellis Avery: "Die Tage des Rauchs"
In einer Welle aus Schock und Trauer

Kein Roman, sondern ein schlichtes, aber umso eindringlicheres Tagebuch: Ellis Avery schreibt in "Die Tage des Rauchs" über die ersten anderthalb Wochen nach dem Anschlag vom 11. September. Das Plädoyer der 2019 verstorbenen Autorin: Man solle von Rache absehen.

Von Tobias Lehmkuhl | 10.09.2021
Die Autorin Ellis Avery und das Cover von "Tage des Rauchs“
Ellis Averys Aufzeichnungen aus dem September 2001 werden noch nicht durch das Wissen um die globalen Folgen der Anschläge überlagert. (Cover Lilienfeld Verlag / Autorenportrait (c) Sharon Marcus)
Anfang September 2001 ist Ellis Avery 29 Jahre alt, lebt glücklich mit ihrer Partnerin Sharon in Manhattan, hat gerade ihren ersten Roman beendet, feiert am Wochenende den Geburtstag einer Freundin, liest ein Buch über "Die intime Geographie des weiblichen Körpers" und schaut sich das Finale der US Open zwischen der, wie sie schreibt, "grandiosen" Venus Williams und ihrer ebenso grandiosen Schwester Serena an. Die Welt ist heil, bis Ellis Avery am Dienstagmorgen aus dem Supermarkt tritt und in den Himmel blickt.
"Ein perfektes Septemberblau. Durchkreuzt von einer schwarzen Rauchwolke, die von rechts nach links über die Lafayette Street hinwegwaberte. (…) Gemessen an der Fülle des Rauchs, musste etwas ganz in der Nähe in Brand geraten sein. Das ist Broadway, Ecke Houston Street, nahm ich an, ein Block parallel und acht nach Süden. Brannte das Angelika-Kino? Nach einer Erklärung suchend sah ich mich um. Niemand sonst blickte nach oben. Dann ging ein Mann schnell an mir vorbei, der in sein Mobiltelefon sprach. ,Gerade ist ein Flugzeug ins World Trade Center gekracht’, sagte er."

Die unmittelbare Erfahrung herrscht vor

Der Rauch über Manhattan, vor allem die durch den Einsturz des World Trade Centers verursachte immense Staubwolke, wird sich fast zehn Tage halten. Diese Wolke als Sinnbild der Katastrophe und der existentiellen Verunsicherung einer ganzen Stadt zu wählen, ist eine überzeugende Idee. Zugleich bilden diese zehn Tage einen zeitlichen Rahmen, in dem noch die unmittelbare Erfahrung vorherrscht, nicht Reflexion und Analyse, innerhalb dessen die Ereignisse noch nicht durch eine Unzahl an Interpretationen und vor allem nicht durch das Wissen um die globalen politischen und militärischen Folgen überlagert werden.
Komponiert ist Averys Buch, im Original 2003 erschienen, allerdings durchaus. Die Tagebucheinträge sind in Kapitel unterteilt, die jeweils kleine Szenen und Beobachtungen zum Gegenstand haben: Die kurze Flucht nach New Jersey, die Rückkehr nach Manhattan gleich am nächsten Tag, den vergeblichen Versuch, Blut zu spenden, die "Vermisst"-Zettel, die bald überall hängen, die Angst vor einem neuen Krieg.

"Zu Hause konnten wir es nicht aushalten, drinnen zu bleiben. Wir nahmen Schals, um sie uns vor den Mund zu binden, und gingen raus: um den Versuch zu machen, im Saint Vincent’s Blut zu spenden, um den Versuch zu machen, an den Chelsea Piers unsere Hilfe anzubieten. Sie konnten unser Blut nicht gebrauchen. Sie benötigten unsere Hilfe nicht. Draußen vor dem improvisierten Chelsea-Notaufnahmezentrum standen leere Krankenwagen nutzlos Schlange. Wenn ich schon nicht helfen konnte, wollte ich wenigstens Zeugin davon sein, was gerade passierte. Mein Ich, wie ich es kannte, war verlorengegangen. Ich war nicht mehr nur jemand. Ich war eine Stadt. Ich war eine Schaumblase in einer Welle aus Schock und Trauer."

Angst, selbst Opfer zu werden

Auch wenn man Tagebuch schreibt, schreibt man doch immer im Imperfekt, ist Schreiben stets ein Nach-Schreiben. Trotzdem entsteht bei der Lektüre von Averys "Tage des Rauchs" - auch dank der tadellosen Übersetzung von Alex Stern - der Eindruck von Authentizität. Nichts wirkt hier literarisch überformt. Angst, Verwirrung und Trauer erfassen die Autorin wie Millionen andere New Yorker in jenen Tagen. Angesichts der "Gesucht"-Zettel an den Mauern und Stellwänden bricht Avery mehrfach in Tränen aus. Die Angst, selbst Opfer eines Anschlags zu werden, weicht allerdings schon am 12. September der Angst, dass ihr Land bald ein anderes bombardieren und dort im Gegenzug zahllose Unschuldige töten könnte. Darum fotokopiert Avery selbstentworfene Postkarten mit dem Aufruf, von Rache abzusehen, und verteilt sie am Union Square.
"Ich fürchte mich vor Giftgas, Anthrax, Pockenviren im Trinkwasser. Massenhysterie. Internierungslagern für muslimische Amerikaner. Krieg. Wir gewinnen durch den Abwurf der Atombombe, und der radioaktive Niederschlag weht zurück zu uns, und wir sterben unter Schmerzen. Oder sie gewinnen, bringen die Homosexuellen um, steinigen unverheiratete Frauen, die Sex haben, alle Frauen, die Jobs haben, alle Männer, die sich rasieren. Ich fürchte mich davor, dass ich nächstes Jahr zurückblicken werde und das hier werden die guten Tage gewesen sein, als nur das World Trade Center unsere Sorge war. Ich hoffe, lange genug zu leben, um noch Krebs von dem Asbest zu bekommen."
Als eine Bekannte von Ellis Avery überlegt, ob sie aus dem, was passiert ist, nicht "irgendetwas machen" kann, fühlt sich Avery ertappt, fühlt sie sich wie ein Monster, weil sie als Autorin natürlich immer mit der Frage beschäftigt ist, wie sich Welterfahrung in Literatur übersetzen lässt. Mit "Tage des Rauchs" ist ihr in der geordneten Schlichtheit und formalen Reduktion Literatur gelungen, die den Vorwurf des Parasitären nicht fürchten muss.
Ellis Avery: Die Tage des Rauchs. 11. - 21. September 2001
Mit einer Nachbemerkung von Sharon Marcus
Aus dem amerikanischen Englisch von Alex Stern
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2021
152 Seiten, 18 Euro