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Emanzipation und Arbeiterschaft

Mankells 1982 in Schweden erschienener Roman spielt im Arbeitermilieu. Es ist ein Buch über Frauen - und war für den Autor ein "faszinierendes Abenteuer".

Von Johannes Kaiser | 11.01.2010
    "Das Buch bedeutet mir immer noch eine Menge, auch wenn ich es vor 30 Jahren geschrieben habe, und zwar deswegen, weil es ein Roman ist, der auf einer ganz einfachen Idee beruht. Ich wollte den Unterschied zwischen Männern und Frauen begreifen. Es ist ein Buch über Frauen und das war für mich ein faszinierendes Abenteuer."
    Dass sich der inzwischen 61-jährige schwedische Schriftsteller Henning Mankell noch gerne an seinen siebten Roman "Daisy Sisters" erinnert, liegt sicherlich auch daran, dass das Buch bis heute in Schweden ständige Neuauflagen erlebt und stets aufs Neue begeisterte Leserinnen findet. So ist es wenig verwunderlich, dass sein Autor weiterhin stolz auf sein Werk ist. Dass Henning Mankell damals Ende der 70er-Jahre zwei Frauen aus der schwedischen Arbeiterschaft in den Mittelpunkt seiner Geschichte stellte, hatte allerdings auch politische Gründe. Der Schriftsteller war in jenen Jahren politisch sehr engagiert, hegte Sympathien für Norwegens Maoisten und schrieb für linksradikale Blätter. Ein Thema der linken Bewegung war die Emanzipation der Frauen. Dass sich der Autor ihre Sache zum literarischen Sujet erkor, lag also durchaus nahe. Dass seine Frauengestalten aus dem Arbeitermilieu stammten, war schon ungewöhnlicher.

    "Das meiste dessen, was man über Frauen liest, handelt nicht von den Töchtern der Arbeiterklasse. Man liest über Frauen aus dem Bürgertum und dem Kleinbürgertum, aber kaum etwas über Frauen aus der Arbeiterklasse und das war für mich eine weitere Herausforderung. Ich musste mit vielen dieser Frauen reden und hielt es für außerordentlich wichtig, über sie zu schreiben. Und ich glaube, dabei habe ich wirklich sehr viel gelernt."
    Die gesamte Geschichte spielt denn auch im Arbeitermilieu. Wer nun allerdings einen Roman über klassenbewusste Proletarierinnen erwartet, kennt Henning Mankell schlecht. Politromane waren nie sein Metier. Fasziniert haben ihn stets persönliche Schicksale und von denen erzählt er in "Daisy Sisters". Seine Geschichte umfasst drei Frauengenerationen und spielt im Zeitraum von rund 40 Jahren zwischen 1941 und 1981.

    Als Erstes treffen wir auf die 18-jährige Elna, die sich mit ihrer Brieffreundin Vivi nach langen Briefwechseln 1941 zu einem kurzen Urlaub trifft. Sie verstehen sich sofort sehr gut und nennen sich im Übermut Daisy Sisters. Abenteuerlustig beschließen die beiden, mit dem Fahrrad die Grenze zum von den Nazis besetzten Norwegen zu erkunden. Zwei schwedische Soldaten fangen sie ab. Die Mädchen verabreden sich mit den jungen Männern. Elna, was Männer angeht, völlig unerfahren und von niemandem aufgeklärt, wird von einem der beiden betrunken gemacht und dann vergewaltigt. Sie wird schwanger, versucht das Kind abzutreiben – ein damals lebensgefährliches Unternehmen, denn Abtreibungen waren illegal.

    "Ich hatte schon einiges an Recherchen zu machen. In einem Teil des Buches geht es um eine Frau, die eine illegale Abtreibung macht. Ich als Mann weiß eigentlich gar nichts über Abtreibungen, darüber, was sie bedeutet haben, insbesondere unter diesen halbkriminellen Verhältnissen. Ich musste also eine Frau finden, die das unternommen hatte und bereit war darüber zu reden."
    Henning Mankells junges Arbeitermädchen gerät an einem Kurpfuscher, muss blutend in Krankenhaus, wird aber gerettet. Doch auch das ungewollte Kind, ihre Tochter Eivor, überlebt. Den Vater wird sie nie finden. Elna wird eine hartherzige Mutter, die ihrer Tochter nur selten Liebe und Zuneigung gibt. Erst ganz spät im Leben wird sie noch einmal und diesmal bewusst und gewollt schwanger.

    Die ungewollte Eivor jedenfalls hält nichts in ihrem Elternhaus. Sie nutzt denn auch die erste Gelegenheit zu verschwinden, lässt sie sich auf den 17-jährige Lasse ein, den sie bei ihrem Nachbarn trifft, und flieht mit ihm in einem gestohlenen Auto. Sie hat keine Ahnung, dass Lasse bereits einiges auf dem Kerbholz hat. Als der kaltblütig einen alten Bauern umbringt, begreift Eivor endlich, worauf sie sich eingelassen hat und flieht nach Hause. Sie bricht die Schule ab, beginnt eine Ausbildung als Näherin. Doch dann trifft sie einen jungen freundlichen Mann, lässt sie sich von ihm schwängern, heiratet ihn, bekommt ein zweites Kind, erkennt, dass ihr Mann fremd geht, trennt sich von ihm, sucht sich eine Arbeit als Arbeiterin in einer Fabrik für Kunstfasern.

    Gerade als sie eine Weiterbildung anfängt, taucht plötzlich Lasse wieder auf, angeblich aus dem Gefängnis entlassen. Er lädt sie zu einem Urlaub auf Madeira ein, Ihrem ersten im Ausland. Sie passt nicht auf und wird erneut schwanger, diesmal von Lasse. Statt abzutreiben, trägt sie das Kind aus und begräbt damit alle Möglichkeiten auf eine bessere Ausbildung. Im Unterschied zu ihrer Mutter liebt sie allerdings ihre Kinder. Am Ende des Buches heißt es einmal:

    Hätte sie selbst wählen wollen, um dieser Freiheit willen ohne ihre Kinder zu sein? Nein, da ist sie sich sicher, auch wenn es ihre einzige Gewissheit ist. Ohne Kinder wäre ihr Leben unnütz.
    Henning Mankell greift hier auch noch ein weiteres Thema auf, das bis heute virulent ist: alleinerziehende Mütter. Eivor jedenfalls hat mit ihren heranwachsenden Kindern nicht leicht. Der Sohn berät in falsche Kreise und die Tochter wird schwanger.

    "Ich denke, wir alle wissen, und das trifft auf die ganze Welt zu, dass die Frauen die Verantwortung für die Familie haben. Wir leben in Gesellschaften, in denen Männer, Väter, oftmals verschwinden. Eines der Grundprobleme für junge Leute besteht darin, dass sie ohne Väter aufwachsen. Die übernehmen keine Verantwortung. Die Mütter werden mit den Kindern allein gelassen, und weil die Männer nicht da sind, haben die Kinder eine Menge Probleme."
    Die Männer spielen in Mankells Roman denn auch nur eine Nebenrolle, obwohl sie das Leben der Frauen bestimmen. So fällt zum Beispiel Eivor immer wieder auf Männer herein. In ihrem Versuch, sie zu halten, passt sie sich an, unterwirft sich ihren Wünschen, schluckt ihre Beleidigungen, ordnet sich unter.

    "Ich glaube, Frauen machen sehr viele Fehler, weil sie immer noch so abhängig von den Männern sind. Vor 20, 30 Jahren bestand das Leben der Frauen darin, die Träume der Männer zu verwirklichen. Wir erleben heute, wie sich das ändert. Heute begreifen die Frauen, dass es an ihnen ist, nicht an den Männern, ihre Zukunft zu bestimmen. Verständlicherweise machten damals wegen dieses einen großen Fehlers Frauen sehr viele andere Fehler und ich glaube, es war notwendig, zu zeigen, was für Fehler sie gemacht haben. Dennoch erwiesen sie sich stets aufs Neue als Katzen mit neun Leben und lebten weiter."
    So lässt sich auch Eivor allen schlimmen Erfahrungen zum Trotz nicht unterkriegen, fängt an, aufzubegehren, auch wenn sie dabei stets ein schlechtes Gewissen hat. Es ist ein quälend langsamer Prozess und nicht selten im Buch möchte man sie schütteln und ihr zurufen: Wach endlich auf, wehr dich, stell dich auf eigene Beine. Es dauert lange, Eivor ist inzwischen in einer Stahlfabrik zur Kranführerin aufgestiegen, bis sie wirklich rebelliert.

    Mankell hat sich dafür eine symbolträchtige Geschichte ausgedacht. Als Eivor ihren Job anfängt, hängen an den Wänden des Aufenthaltsraums Pornobilder von Frauen. Eivors Proteste finden ihre Kollegen lächerlich. Erst als sie anstelle der entblößten weiblichen Körper eindeutige Männerposen aus Schwulenpornos an die Wände heftet, geben sich ihre Kollegen geschlagen.

    "Es wäre völlig falsch gewesen, wenn ich die politischen Dimensionen mehr in den Vordergrund geschoben hatte, denn dies ist eher ein Buch darüber, wie Frauen allmählich begreifen, dass sie politische Menschen sind. Ich hielt es für viel interessanter, dass sie die Politik hinter den kleinen Dingen entdecken. Es ist eine langsame Entwicklung das ganze Buch hindurch, bei der sich auch beim Leser allmählich politische Einsicht einstellt. Das habe ich so geplant. Sie sind in gewisser Weise schwach, aber sie begreifen zunehmend ihre Stärke und das war auch meine Idee, dass diese Frauen immer mehr begreifen, welche Macht sie haben."
    Seinen beiden Hauptprotagonistinnen hat Henning Mankell jeweils eine Freundin gegenübergestellt, die im Prinzip das Gegenteil von Elna und Eivor sind: selbstbewusst, frech, sehr lebendig, kein bisschen schüchtern, Frauen, die ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen, sich nicht von den Männern so ausbeuten lassen.

    "Ich habe versucht, in diesem Buch so viele Beispiele wie möglich für die Variationen von Frauen zu geben. Ich erinnere mich, dass ich, als ich das Buch schrieb, sehr intensiv an Johann Sebastian Bach dachte und zwar daran, wie man Variationen desselben Themas schafft. Das Thema waren die Frauen, aber eben auch, wie man dieses Thema variieren kann."
    Bei aller Entwicklung, die die Protagonistinnen durchlaufen: Der Roman ist ein Stück weit deprimierend, weil sie sich so viel gefallen lassen, sozusagen sehenden Auges in ihr Unglück rennen. Man wartet geradezu auf das nächste Drama, die nächste Dummheit. Das ist bisweilen schwer erträglich. Aber das trifft ja auch auf die Wirklichkeit zu. Sie ist oftmals schwer auszuhalten. Ein aufrüttelnder Roman eines Erzählers, der es nicht nur versteht, einem durchaus normalen Frauenleben Dramatik abzugewinnen, sondern in ihm die ganze Gesellschaft wieder zuspiegeln.

    Hennig Mankell: "Daisy Sisters". Übersetzung Heidrun Hoppe. Paul Zsolnay Verlag, 556 Seiten