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Emma Glass' Roman "Peach"
Der Sound des Schmerzes

Der Debütroman der Waliserin Emma Glass erscheint zum perfekten Zeitpunkt: Weltweit sprechen Frauen über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. "Peach" erzählt in surrealer Bildersprache von einer Vergewaltigung und reiht sich ein in den Chor anklagender Stimmen. Doch ist es auch ein guter Roman?

Von Mithu Sanyal | 14.03.2018
    Cover des Romans Peach von Emma Glass (mit verfremdetem BIldausschnitt im Hintergrund), Edition Nautilus
    "Wie 'Alice im Wunderland' auf Acid": Emma Glass' Aufsehen erregender Debütroman "Peach" (Edition Nautilus)
    Peach ist ein Pfirsich, aber sie ist auch eine Jugendliche, die aufs College geht und sich mit ihrem Freund Green trifft, der ein Baum ist und ein Jugendlicher und ein Baum. Emma Glass' Roman ist bevölkert von anthropomorphen Mischwesen, die meisten davon essbar: Peach selbst; ihr Bruder Baby, ein Wackelpudding, der beinahe in Peaches Armen schmilzt, als sie zu lange mit ihm vor dem Kamin sitzt; nicht verwandt, aber ebenfalls ein Pudding, ist ihr Biologielehrer Herr Pudding.
    Peach muss sich selbst wieder zusammen flicken
    "Als er den Kopf schüttelt, fliegen Puddingkleckse aus seinem Gesicht auf die Schüler in der ersten Reihe. Ups, sagt er. Tut mir leid. Ist noch früh. Ich bin noch nicht ganz fest. Gliedmaßen kommen aus dem Gatsch. Armteile, Beinteile, Knochenteile. Kleckse. Knallgelb. Plötzlich kräftig. Blubbernd. Die Wellen wachsen, erfassen Herrn Pudding, lassen ihn aufwallen, höher, immer höher, bis auf seinem Schädel eine dünne Puddinghaut entsteht, und schon bald ist er drauf und dran, die Decke zu berühren."
    Was sich liest wie "Alice im Wunderland" auf Acid, entpuppt sich rasch als Horrortrip. Wegen Maxe, der nach verbranntem Fleisch riecht, Maxe, dessen schwarzer Mundschlitz weit aufgerissen ist, so dass Peach das Hackfleisch und die Knorpel dahinter sehen kann, Maxe, der einen fettigen, schleimigen Film auf Peaches Haut hinterlässt, wo er sie nicht aufrisst, zerfetzt. Maxe entkommen, muss sich Peach selbst wieder zusammen flicken.
    "Ich setze mich auf das Handtuch. Spreize die Beine. Platziere den Spiegel, oh. Ich nehme einen Eiswürfel und drücke ihn gegen meine Haut. Oh. Kalt. Oh. Ich lasse ihn heruntergleiten an meine – kalt. Oh so kalt. Schiebe die Nadel durch die Haut. Stopfe. Es tut nicht weh. Aber es blutet. Weißer Faden wird rot. Roter Faden. Rein. Raus. Ich ziehe. Zupfe. Zerre an der Nadel. Rein. Raus. Raus. Raus. Licht aus."
    Ein Chor anklagender Stimmen
    Auch wenn das Wort nie ausgesprochen wird, ist klar: Maxe hat Peach vergewaltigt. So surreal der Rest, so real ist diese Vergewaltigung. Tatsächlich ist sie die einzige Gewissheit in der ungewissen Welt des Romans. Damit erscheint er zu einem perfekten Zeitpunkt. Weltweit sprechen Frauen über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt. "Peach" reiht sich ein in einen Chor anklagender Stimmen.
    Doch Peach, die Hauptfigur, spricht mit niemandem. Nicht mit ihren Eltern, die zu berauscht von ihrer Verliebtheit sind und kaum lange genug die Finger voneinander lassen können, um die Verstörung ihrer Tochter mitzubekommen. Nicht mit ihrem Lehrer Herrn Pudding, der ihre Not sehr wohl bemerkt. Noch nicht einmal mit Green, der, wie es sich für einen Baum gehört, Geborgenheit und Stabilität spendet.
    Sprache der Innerlichkeit und der Verzweiflung
    Die Sprache, die Emma Glass für das Gefühl des Schmerzes findet, ist eine innere, es ist eine Sprache der Verzweiflung, die Peach immer weiter ausfüllt, bis sie droht, ihre samtige Pfirsichhaut zum Platzen zu bringen. Da Maxe ein Wurstmann ist, hört Peach auf zu essen, will vom Zuschauen satt werden, trotzdem schwillt ihr Bauch mit atemberaubendem Tempo. Was darin wächst, ist jedoch kein Baby, kein neues Leben, sondern ein Stein.
    "Wenn ich nur lange genug unter der Dusche bliebe, vielleicht würde meine Haut aufbrennen. Wegbrennen. Das verfallene Fleisch weg, die Wunden weg, der Schmutz weg, Schmerz weg. Vielleicht sähe ich, was drunter ist."
    "Dekoratives" Sterben weiblicher Figuren
    Auch als Maxe ihr nicht mehr nur in ihren Albträumen folgt, sondern ganz real wohin auch immer sie geht, als er ihr Drohbriefe schickt, kann sich Peach niemandem anvertrauen. Weil das halt so ist. Fragen nach dem Warum verbieten sich von Anfang an. Hier geht es nicht um Realismus, nicht einmal um magischen Realismus, hier geht es um Rhythmus und Reime, um den Klang von Alliterationen, den Sound des Schmerzes.
    "Plump klebt klebrig nasse Wolle. Klebt. Windet sich um Wunden, schließt Schnitt um Schnitt mit jedem Schritt an der Wand entlang; meine Hand, behandschuht schrammt daran. Rohe rote Steine zerfetzen Wolle. Roh der rote Kopf."
    Das Problem mit dieser Form von weiblichem Schmerz ist, dass er ein solcher literarischer Topos ist. Die großen Frauenfiguren der Literaturgeschichte leiden und sterben dekorativ. Elisabeth Bronfen hat dafür den Begriff der "schönen Leiche" geprägt. Das andere Problem ist, dass man über Schmerz aber auch nicht einfach schweigen kann, weil es ihn ja trotzdem gibt und eben auch in dieser sehr gegenderten Form.
    Sprache mit hypnotischen Wiederholungen
    Doch je tiefer man in diesen Schmerz hinein geht - und wer sich auf dieses Prosagedicht einlässt, geht tief, da die Sprache mit ihren hypnotischen Wiederholungen unter die Haut geht -, desto wichtiger ist es, auf der anderen Seite wieder heraus zu kommen. Weil er ansonsten zu einem Sinn und Zweck an sich wird, zu einem Spiegelkabinett aus Schmerzen. Und aus diesem Fegefeuer der Verletzlichkeiten gibt es nur einen Ausweg: den Tod der Protagonistin, an Herzschmerz oder Schmerzen im Unterleib.
    Denn das ist das dritte Problem mit dem weiblichen Schmerz in der Literatur: Dass er nicht wie irgendein anderer menschlicher Schmerz ist, sondern größer, überwältigender, verschlingender. Was machen wir mit so viel Leiden? Nichts, da auch Peach nichts tut, außer ihre gerissene Vulva zusammen zu nähen und sich in einer weiteren, an die Grenzen des Lesbaren gehenden Szene die Fäden aus der geschundenen Haut zu ziehen. Nichts ist geheilt. Nichts wird bearbeitet.
    Eine kannibalistisch Rache
    Wer ist Peach jenseits ihres Traumas? Wir wissen es nicht, weil sie es uns nicht mitteilt. Sie entscheidet erst, etwas zu unternehmen, nachdem Maxe Grün angreift und ihn beinahe umbringt.
    "Ich schlucke das Übel, das meine Speiseröhre hochkriecht, schicke es zurück in meinen verseuchten Magen. Ich halte es warm, lasse es rühren wie Rahm, lasse es Butter werden, Futter für Blutrausch."
    Ihre Rache ist extrem und kannibalistisch, bleibt jedoch in letzter Instanz ohne Konsequenzen.
    Gespenstisches Echo auf Bachmann
    Das Ende ist absehbar, obwohl man bis zur letzten Sekunde hofft, dass Peach dem Schmerz mit etwas anderem begegnet als mit völliger Hingabe. Obwohl Emma Glass nach eigenen Angaben Ingeborg Bachmann nie gelesen hat, sind ihre letzten Zeilen ein gespenstisches Echo der letzten Zeilen von "Malina", in dem Bachmanns weibliche Hauptfigur in einer Wand verschwindet. So verschwindet auch Peach.
    "Das war's, ich kann nicht ich werde nicht wachsen, der Stein der Stein der Stein auf Stein, ich kann nicht keimen ich kann mich nicht halten. Ich kann nicht wachsen. Keine Seele bergen. In diesem Stein in dieser Grube werde ich sein. In dieser Grube werde ich sein. In dieser Grube werde ich sein. In dieser. In diesem. Stein."
    So innovativ "Peach" stilistisch ist, so traditionell ist seine Handlung, seine Hauptfigur, letztlich seine gesamte Aussage. Das macht ihn nicht zu einem schlechten Roman, nur eben auch nicht zu einem Meisterwerk.
    Emma Glass: Peach
    Aus dem Englischen von Sabine Kray
    Edition Nautilus, 128 Seiten, 19,90 Euro