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Emotionaler Wahlkampf um Verfassungsänderung

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogans konservative AKP will eine Verfassungsänderung durchbringen. Fast alle Oppositionsparteien, darunter die sozialistische CHP sind dagegen. Umstritten ist bei der Bevölkerung vor allem die Justizreform.

Von Steffen Wurzel | 10.09.2010
    Auf den Straßen Istanbuls geht es dieser Tage noch lauter zu als sonst. Aufwendig umgebaute und umlackierte Kleinbusse mit Lautsprechern auf dem Dach fahren durch die Stadt. Und auch auf diversen Plätzen im gesamten Stadtgebiet stehen Wahlkampfstände und beschallen die Umgebung.

    Der Wahlkampf dreht sich um "evet" oder "hayir" - "ja" oder "nein", es geht um eine von der Regierung vorgeschlagene Verfassungsänderung.

    Was aber klar ist: Es geht nicht nur um die Änderung von 26 Artikeln der seit Anfang der 80er-Jahre gültigen so genannten "Putschistenverfassung". Diese wurde von den Militärs erlassen, die sich in der Türkei exakt vor 30 Jahre an die Macht geputscht haben. Das Regelwerk ist bis heute zu großen Teilen gültig.

    Das Referendum ist gleichzeitig auch eine weitere Runde im höchst emotional geführten Dauer-Machtkampf; zwischen der alten kemalistischen und laizistisch orientierten Elite des Landes einerseits und der zur Zeit regierenden religiös-konservativen AKP unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan andererseits. Der AKP-Chef tritt seit Wochen auf den Plätzen türkischer Städte auf und bittet die Wähler um ein Ja.

    "Jede Ja-Stimme, die Ihr gebt, geht nicht an die AKP, sondern an Euch! An Eure Zukunft und an Eure Kinder!"

    Fast alle Oppositionsparteien, an ihrer Spitze die CHP, rufen die Türken auf, mit "Nein" zu stimmen. Der neue Chef der CHP, Kemal Kilicdaroglu , warnt seine Anhänger davor, die regierende AKP unter Ministerpräsident Erdogan werde durch die Änderungen der Verfassung noch mächtiger.

    "In der Stadt Mardin hat die AKP-Stadtverwaltung unsere mit Genehmigung aufgeklebten Nein-Plakate abgehängt. Unsere Leute sind zum Staatsanwalt gegangen, doch der hat aus Angst nichts unternommen. Wie soll ein Staatsanwalt, der sich schon heute so stark unter Druck setzen lässt, morgen das Recht der Bürger verteidigen? Ich möchte, dass jeder begreift, was solche Staatsanwälte erst machen werden, wenn sie unter die Kontrolle der AKP geraten!"

    Die geplanten Verfassungsänderungen dienten ausschließlich Erdogans Partei AKP - mit dem von vielen als unsachlich kritisierten Argument, wirbt die oppositionelle CHP bei ihren Anhängern für ein "nein". Was dahinter steckt: Einige der Verfassungsartikel betreffen die Justiz.

    Vereinfacht gesagt: Der Einfluss des Parlaments auf die obersten Richter und Staatsanwälte soll mit der Verfassungsänderung gestärkt werden. Der Einfluss der bisher in der Justiz besonders starken alten kemalistischen Machtelite des Landes soll reduziert werden. Ministerpräsident Erdogan argumentiert, dass auch in vielen EU-Staaten die Parlamente ganz selbstverständlich an der Auswahl der obersten Richter beteiligt seien. Erdogan betont, eine moderne Türkei brauche die Verfassungsänderung:

    "Dieses Reformpaket ändert die Verfassung so, dass der Weg für die Türkei in Richtung EU, in Richtung moderne Welt erheblich vereinfacht wird."

    Die Europäische Union hat die geplante Verfassungsänderung als, so wörtlich, "Schritt in die richtige Richtung" bezeichnet. Für einige Punkte des Reformpakets gibt es ausdrücklich Lob aus Brüssel. Zum Beispiel für die Schaffung einer zentralen Beschwerdestelle für Bürger, für die Begrenzung der Zuständigkeit von Militärgerichten und für die Stärkung der Kinderrechte.

    All das sind Punkte, denen die meisten Türken ohne Weiteres sofort zustimmen würden. Dass die Meinungsforscher trotzdem ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen beiden Lagern vorhersagen, liegt daran, dass sich viele Wahlberechtigte daran stören, dass sie nur über das Gesamtpaket abstimmen können, inklusive der umstrittenen Justizreform. Die Istanbuler Juristin Zeliha Aydin will das Referendum deswegen boykottieren.

    "Ich sehe die Abstimmung sehr kritisch. Innerhalb des ganzen Pakets gibt es einige Änderungen, denen ich lieber nicht zustimmen möchte. Dazu habe ich aber keine Chance. Ich muss entweder zu allem ja oder zu allem nein sagen. Das ist undemokratisch."