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"Empört Euch!"

Im Alter von 93 Jahren hat der französische Publizist Stéphane Hessel noch einmal zur Feder gegriffen und den Aufruf "Empört Euch!" verfasst. Die junge wie die alte Generation sollen sich davon ermutigen lassen, zu sagen "Das passt uns nicht, wir wollen die Welt ändern", sagt Hessel.

Stéphane Hessel im Gespräch mit Tanya Lieske | 02.06.2011
    Tanya Lieske: Stéphane Hessel, im wirklich gesegneten Alter von 93 Jahren haben Sie noch einmal zur Feder gegriffen, haben den Aufruf "Empört Euch!" verfasst, was hat Sie dazu veranlasst?

    Stéphane Hessel: Also, es gelang mir nach einer Sitzung in einem Widerstandsort in Südfrankreich so über den Widerstand zu sprechen, über die Werte des Widerstandes, die heute noch so wichtig sind, dass eine charmante Frau die Verlegerin Indigène in Montpellier mich dann fragte, können wir nicht zusammen etwas schreiben, aber es muss kurz sein, denn mein Verlag gibt nur ganz kurze kleine Bücher raus. "Gut", habe ich gesagt, " sagen wir doch etwas Kurzes, aber sagen wir doch etwas Starkes, zum Beispiel: Wir beide empfinden doch, dass die Welt in falsche Richtungen gegangen ist, und dass wir in uns irgendwie dagegen wehren müssen."
    "Ja", hat sie gesagt, " nennen wir doch das Buch 'Indignez-vous', 'Empört euch' ist es auf Deutsch übersetzt worden.
    "Naja, aber was werden wir denn da sagen?"
    "Wir sollen sagen, dass die junge Generation und auch die ältere Generation sich davon ermutigen lassen, zu sagen: "Das passt uns nicht, wir wollen die Welt ändern!" Aber in welcher Richtung? Nun ja, darüber haben wir dann gesprochen, und daher kam dann ein kleines Heft. Nur dreißig Seiten, und ziemlich billig, drei Euro, und es ging fort wie ein Stern, es hat sich in größter Geschwindigkeit verkauft. Jetzt sind es über 2.200.000 Exemplare, die schon überall zu erhalten sind auf Französisch und in 25 Übersetzungen, eine der ersten war auf Deutsch. Auf Deutsch hat man es "Empört Euch!" genannt, aber es war immer wieder dieselbe Idee: Die Leute, die dies lesen, sollen es sich klar machen, dass es nicht so weitergehen kann, wie es jetzt seit ein paar Jahrzehnten geht.

    Lieske: Es geht in Ihrer Schrift um große Themen, um die Frage der sozialen Gerechtigkeit in den Industrienationen, um Menschenrechte, und auch um die Erhaltung unseres Planeten. Es gab ja in dem letzten Jahrhundert, das das Ihre war, große Chancen, um die Welt neu zu ordnen, einmal das Ende Zweiten Weltkriegs, und einmal der Fall des Eisernen Vorhangs. Glauben Sie, Monsieur Hessel, dass diese zweite Chance verpufft ist?

    Hessel: Also, hoffentlich nicht! Ich bin sehr stolz darauf, dass meine Generation Europa zusammengebracht hat, zum ersten Mal in Jahrhunderten. Die europäischen Staaten sind sich jetzt einig, eine Union aufzubauen, aber es ist noch nicht kräftig genug. Die Autorität der Europäer ist ein bisschen wacklig und es liegt bei der neuen Generation, dieses Europa starkzumachen. Die Grundwerte unseres Europas, die Grundwerte der Demokratie, die Grundwerte der Menschenrechte, mit denen ich damals in den Jahren 1945 und 1948 des vorigen Jahrhunderts gearbeitet habe in der allgemeinen Erklärung der Vereinten Nationen über die Menschenrechte, diese Werte besitzen wir noch, wir müssen sie aber verteidigen, gegen eine Umwelt, die sich sehr verändert hat. Und diese Veränderung ging nicht in die richtige Richtung, meiner Meinung nach. Daher ist es richtig sich zu empören, und zwar zu sagen: So geht es nicht weiter! Wir müssen mehr Gerechtigkeit schaffen und wir müssen uns um die Natur und die Erde kümmern. Sonst wird es nach ein paar Jahrzehnten nicht mehr möglich sein, unsere schöne Gesellschaft, unsere aus europäischen Werten gegründete Gesellschaft weiter zu beleben.

    Lieske:Sie waren zur Zeit der deutschen Besatzung Mitglied der Résistance, Sie haben den Widerstand gegen Unrecht also selbst ausgeübt. Sie sagen selbst, dass Zustände heute schwerer zu überblicken sind, das Unrecht kommt verkleidet daher, in großen Finanzbewegungen, im Transfer von Waren und Arbeitskräften. Haben Sie Verständnis dafür, dass junge Menschen auch Ohnmachtsgefühle empfinden?

    Hessel: Dafür habe ich Verständnis. Aber wenn ich sie treffe - es kommt jetzt öfters vor, dass ich junge Personen treffe - sage ich ihnen, was euch bevorsteht ist zwar nicht so klar zu verstehen wie es zu der Zeit des Krieges oder zur Zeit der Entkolonialisierung der Fall war. Auch der Kampf gegen die Apartheid in Südafrika oder sogar der Fall der Berliner Mauer, das war alles ziemlich evident, und jetzt ist es ein bisschen anders, aber es ist immer noch eben so wichtig und eure Energie brauchen wir, eben so wie wir unsere Energie damals gegeben haben. Jetzt handelt es sich darum, dass sie in dieser neuen Gesellschaft, in dieser weltweiten Gesellschaft, in der sie zu Hause sind, tätig werden. Denn sie können ja mit allen kommunizieren, sie haben Internet und was nicht alles, sie sind zu Hause in dieser gesamten Welt, aber sie wissen auch, Ihr wisst auch, dass diese Welt unglücklich aussieht, und dieses Unglück müsst Ihr jetzt überwinden. Dazu bracht ihr Mut, Vertrauen in eure Kraft, und dafür lest mal mein kleines Buch, und Ihr werdet schon sehen, in welche Richtung man arbeiten kann.

    Lieske:Sie haben ja, Monsieur Hessel, ein sehr bewegtes Leben. Haben auch eine Biografie mit dem Titel: "Tanz mit dem Jahrhundert" vorgelegt. Sie wurden in Berlin geboren, sind dann als Siebenjähriger nach Paris übergesiedelt, haben in der Résistance gekämpft, haben das KZ Buchenwald und das berüchtigte Arbeitslager Dora überlebt. Sie geben sich in Ihren Schriften "Empört Euch!" und "Tanz mit dem Jahrhundert" immer als Optimist zu erkennen, woher rührt das?

    Hessel: Die Tatsache ist doch, dass ich diese schrecklichen Momente überlebt habe, und zwar aus allerlei Glücksfällen heraus. Ich war schon zu Tode verurteilt, und konnte dann die Identität eines armen, französischen Jungen, der an Typhus gestorben war, übernehmen. Das hat mich also gerettet, dann bin ich geflohen und wurde festgenommen, aber da ich gut Deutsch sprach habe ich den SS-Mann überzeugt, er soll mich nicht aufhängen lassen, sondern soll mich nur ins Strafkommando setzten. Da habe ich wieder mal überlebt. Ich empfinde mich also wie einen Glückspilz, der die schlimmsten Lagen überlebt hat. Daher auch habe ich eine ganz besondere Verantwortung, und zwar für all die Kameraden, die nicht durchgekommen sind, von den 36, mit denen ich in Buchenwald ankam, sind 31 entweder aufgehängt oder erschossen worden. Also bin ich einer der wenigen Überlebenden. Das bedeutet die Verantwortung für die, die nicht mehr da sind, auf mich zu nehmen, und zu sagen: Diese Werte, die wir gemeinsam hatten, die muss ich jetzt verteidigen.

    Lieske: "Hoffnung" ist ein Wort, das in Ihren Schriften oft fällt. Ich habe sogar einen dialektischen Dreischritt entdeckt. Sie schreiben: Hoffung wirkt, Gewalt hat keine Hoffnung – also wirkt Gewalt nicht. Spricht da der Philosophiestudent, der Schüler, der irgendwann einmal Hegel gelesen hat?

    Hessel: Ja, ganz recht. Also nicht nur Hegel, sondern auch Spinoza. Und dann ist da dieses existenzielle Thema aus meiner Jugend. Jean Paul Sartre hat uns das Engagement vermittelt, also den Willen, sich einzusetzen. Ein zweites kleines Buch ist erschienen von mir, ein Gespräch zwischen mir und einem jungen Journalisten, Gilles Vanderpooten. Wir haben es genannt: "Engagez-vous"!

    Die Frage ist immer dieselbe: Die großen Probleme kann man gut erzählen, aber was kann man tun, um sie zu überwinden? Dafür braucht man die Energie, den Mut und das Selbstvertrauen der Generationen, die jetzt die Verantwortung übernehmen werden. Mein Optimismus hängt damit zusammen, dass ich in meinem so langen Leben mehrere Probleme gekannt habe, die scheinbar unüberwindbar waren, und die dann dennoch überwunden wurden. Also, wir haben schon vom Fall der Mauer gesprochen, und was damit zusammenhängt: das Zusammenkommen der beiden Deutschlands. Jetzt ist es wieder ein einziges Land. Das ist ein enormes überwundenes Problem. Ich freue mich jetzt immer nach Deutschland zu kommen, und dort alle Deutschen zusammen zu sehen. Das bedeutet also: Schwierigkeiten, die es gegeben hat, haben wir überwinden können, und die nächsten müssen wir jetzt auch überwinden.

    Lieske: Sie freuen sich darauf, nach Deutschland zu kommen, sagen Sie. Für viele Menschen, die wie sie die Gewaltherrschaft der Deutschen überlebt haben, Haft und Folter durch die Gestapo, ist danach die deutsche Sprache keine schöne Sprache mehr gewesen. Ich glaube, das ist auch bei Ihnen anders, Monsieur Hessel. Wie ist ihr Verhältnis zum Deutschen?

    Hessel:Sehen sie natürlich, mein deutscher Ursprung, meine Kenntnisse der deutschen Kultur, mein deutscher Schriftstellervater, für den es jetzt sogar einen Franz-Hessel-Preis gibt, der von deutschen und französischen Romanschriftstellern verliehen wird, all das bedeutet, dass ich mit der Deutschen Kultur eine ganz besondere Freundschaft habe. Für mich sind solche Figuren wie Goethe oder Kant eben so wichtig wie Voltaire oder Rousseau, und ich empfinde mich als einen Europäer. Was die deutsche Sprache betrifft, so habe ich sie als Gedichtssprache ganz besonders lieb. Ich werde Ihnen gleich ein kleines deutsches Gedicht aufsagen, wenn Sie es mir erlauben. Auf alle Fälle würde ich nie sagen: Deutschland ist dasselbe wie Hitler.

    Hitler war ein Fehlschlag der Deutschen, sie haben sich von ihm verlocken lassen, leider. Aber sie haben dafür so viel gelitten, in den Nachkriegsjahren, man muss es ihnen jetzt vergeben und vergessen und sich mehr darauf richten, dass Deutschland uns Europäern eine sehr wichtige Botschaft hinterlässt, und zwar: Die ganze deutsche Kultur, wenn man sich an einen Dichter wie Hölderlin erinnert, er sagt zum Beispiel:

    Ihr wandelt droben im Licht/Auf weichem Boden selige Genien!/ Glänzende Götterlüfte/ Rühren euch leicht, /Wie die Finger der Künstlerin /Heilige Saiten ...

    Genug, also. So lange Gedichte soll man nicht aufsagen, aber wenigstens ist es gut zu hören, wie schön deutsche Dichtung klingt und wie sie uns gerade die Grundwerte unserer gemeinsamen europäischen Kultur immer wieder ins Gedächtnis ruft.

    Lieske: Um ein kurzes deutsches Gedicht würde ich Sie aber sehr gerne bitten!

    Hessel: Ah, wollen Sie ein kleines, zum Beispiel Eichendorff:

    Es war als hätt' der Himmel / Die Erde sanft geküsst / Dass sie im Blütenschimmer / Von ihm nun träumen müsst' / Die Luft ging durch die Felder / Die Ähren wogten sacht ... So sternklar war die Nacht / Und meine Seele spannte / Weit ihre Flügel aus, / Flog durch die stillen Lande / Als flöge sie nach Haus.

    Aber Sie sehen, es fehlen mir da schon ein oder zwei Wörter, da muss ich immer wieder aufpassen. Deutsch ist mir zwar sehr lieb, aber mein Wortschatz auf Deutsch ist nicht so gut, wie auf Französisch, sogar nicht wie auf Englisch.

    Lieske: Sie haben einen außergewöhnlich großen Fundus an Gedichten, können mehr als hundert auswendig, haben die Schönsten, die Ihnen am liebsten sind, auch veröffentlicht in einer "Trilingologie", die Gedichte in drei Sprachen versammelt, deutsch, englisch und französisch. Sie haben Ihre liebsten auch veröffentlicht unter dem Titel "O ma mémoire", (Mon beau navire o ma mémoire – avons nous assez navigué Guillaume Apollinaire ) bedeutet was?

    Hessel: Es ist ein Auszug aus einem Gedicht von Guillaume Apollinaire, das Gedicht heißt "La chanson du mal et aimeé". Es ist ein sehr langes, schönes Gedicht, und mein Buch wurde von dem Sohn von Eugen Kogon, Michael Kogon übersetzt. Eugen Kogon ist der Deutsche, der in Buchenwald war und mir doch das Leben gerettet hat. Das war ein ganz außerordentlicher Glücksmoment, und sein Sohn hat mein Buch, mein Gedichtbuch, meine Trilingologie, sehr gemocht, und er hat sie übersetzt. Er hat sogar auch "Indignez-vous" übersetzt, er ist der Übersetzer von "Empört Euch!", und wird jetzt auch das andere Buch "Engagez-vous" übersetzen, das ist für mich eine ganz besondere Freude.

    Lieske: Sie sind ein klassischer Homme de Lettre, Sie lieben die Politik genau so wie die Poesie, Verbindung ist in Frankreich sehr fruchtbar, deutsche Politiker sind eher nüchtern, können sicher keine Gedichte rezitieren, womit erklären Sie sich das?

    Hessel: Ich denke, das hängt auch damit zusammen, dass eben Politik in den verschiedenen Ländern auch ganz anders angesehen wird. In Frankreich ist man sehr darauf aus, dass die Figuren, die eine politische Kraft haben, die sollen auch Kultur haben, und man freut sich, wenn sie Gedichte aufsagen können. Aber das ist nicht immer der Fall, wir haben heutzutage einen Präsidenten, der keine gute Kultur hat. Er hat sogar bei einem sehr schönen Roman aus dem 17. Jahrhundert, "La Princesse de Clèves", versagt. Wir nehmen ihm das etwas übel, denn wir würden gern solche Präsidenten haben wie Mitterrand oder Chirac, die immerhin eine tiefe Kultur hatten. In Deutschland weiß ich es nicht, ich kann es mir nicht richtig vorstellen. Ich war vorgestern zufälligerweise zusammen mit Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer. Nun ja, ich hatte das Gefühl, das sind zwei kultivierte Menschen, die auch Gedichte auswendig können.

    Besprochene Titel:
    "Tanz mit dem Jahrhundert", Arche Verlag, 387 Seiten, 23,00 Euro
    "Empört Euch!", Ullstein Verlag, 32 Seiten, 3,99 Euro
    "O ma mémoire", Grupello Verlag, 346 Seiten, 22,90 Euro