Mittwoch, 24. April 2024

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Ende der Homeoffice-Pflicht
Es gilt, die richtige Balance zu finden

Am 30. Juni endet die Pflicht für Unternehmen, ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern das Arbeiten von zu Hause zu ermöglichen. Muss das aber das Ende von "Homeoffice für alle" bedeuten, an die sich viele Menschen gewöhnt haben? Auf keinen Fall, meint Dlf-Autor Peter Martin Becker.

Eine Glosse von Peter Martin Becker | 30.06.2021
 Vater mit Laptop und kleiner Tochter beim Puzzeln am Küchentisch.
Küche, Arbeits- und Kinderzimmer in einem: Im Homeoffice finden die unterschiedlichen Aspekte des Lebens einen gemeinsamen Ort. (imago / Jochen Eckel)
Geld verdienen in Heimarbeit: Was hatte das mal für ein Schmuddelimage? Wahlweise konnte man Kugelschreiber zusammenschrauben oder für dubiose Auftraggeber illegal Pakete annehmen – mehr war nicht drin, so ganz und gar daheim. Doch die Pandemie hat das Homeoffice salonfähig gemacht. Kurzerhand haben wir die Bücherwand hinter uns auf Webcamhöhe hochgeschraubt, "Kindlers Literaturlexikon" in 18 Bänden aus dem schimmeligen Keller geholt und so geschickt platziert, dass die Kolleginnen und Kollegen im Videocall unsere geballte Belesenheit vor Augen haben.
Das anekdotische Kuriositätenkabinett wuchs von Tag zu Tag: Mal trat ein amerikanischer Staatsanwalt während einer Anhörung als Katze auf, weil eine Mitarbeiterin angeblich versehentlich den Tierfilter vergessen hatte, mal wurde selbstvergessen während wichtiger Gespräche gebügelt, mal bekannte ein Kollege ganz ungeniert, grundsätzlich nur noch in Nachtwäsche zu arbeiten, und zwar den ganzen Tag über.

Deko-Desaster und Geschmacklosigkeiten

Wir lernten fremde Haustiere, fremde Kleinkinder und fremde Dekorationsdesaster kennen und offenbarten gleichzeitig unsere eigenen Geschmacklosigkeiten. Wir schmatzte und schlürften uns gegenseitig die Ohren voll, weil immer irgendwer vergaß, sein Mikrofon auszuschalten. Hatte es jemals so gemenschelt, als wir Konferenzen noch Knie an Knie miteinander verbrachten? Genügt nicht dieses eine Jahr Homeoffice, um es von unserem fleckigen Arbeitsküchentisch aus direkt auf die Liste des immateriellen Kulturerbes zu katapultieren?
Schreibtisch mit Laptop, Telefon und mit Kopfhörern am Schreibtisch vor einem Fenster.
Wie viel Homeoffice ist nötig, wie viel möglich?
Nach der Verlängerung des Lockdowns wird an die Wirtschaft appelliert, mehr Homeoffice-Arbeit zu ermöglichen. Doch wieviele Arbeitnehmer arbeiten von zuhause aus? Und welche Gründe sprechen dafür, welche dagegen?
Bei aller Euphorie des Freiberuflers, für den das Arbeiten daheim schon ein alter Hut ist: Wir taten uns mitunter auch schwer mit seriösem Mailverkehr in kuscheliger Sofalandschaft. Schnaps ist Schnaps und Dienst ist Dienst. Aber wie soll das zusammengehen, wenn der Schreibtisch sich in kafkaesken Ausmaßen plötzlich über die ganze Wohnung erstreckt und wir de facto auch dann noch verfügbar sind, wenn der erste, zweite oder auch dritte Gin Tonic schon längst intus ist?
Dürfen wir überhaupt noch "Nein" flüstern, obwohl unsere ganze Behausung ständig "Ja!" schreit, die eigene Arbeitsbereitschaft betreffend? Vielleicht muss man es ja so machen wie ein Freund von mir: Er zieht sich grundsätzlich seine "Schreibhose" an, wenn er sich an ein Buchmanuskript setzt – zieht er die Hose wieder aus, ist die Heimarbeit beendet.

"Jahrzehnt des Zuhauses"

My Homeoffice is my castle: Marktforscher haben das im Auftrag von Möbelhäusern und Baumärkten kürzlich bestätigt. In den vergangenen zwölf Monaten sind wir Umfragen zufolge schon längst eingetreten in ein sogenanntes "Jahrzehnt des Zuhauses". Letztlich wird es vor allem darauf ankommen, was die Unternehmen aus dieser ganzen Armee an mittlerweile kampferprobten Homeofficerinnen und Homeofficern machen, wenn ab sofort aus einer bitteren Pflicht die süße Möglichkeit wird, einfach mal den ganzen Tag vom Bett aus zu arbeiten.
Es gilt, die richtige Balance zu finden – und im Zweifelsfall gibt es ja immer noch einen paradoxen Kunstgriff, nämlich: einfach nicht zu Hause zu sein, und somit auch nicht bei der Arbeit. Möglicherweise könnte man in diesem Szenario dann zukünftig zum Ausruhen einfach mal ein Stündchen ins Büro – bevor daheim schon wieder die Arbeits- und Wäscheberge über uns zusammenbrechen.