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Ende der Ruhrbesetzung vor 80 Jahren

Für den jungen, später berühmten ungarischen Romancier Sándor Márai gehörten die wilden zwanziger Jahre im Deutschland des vergangenen Jahrhunderts zur Lehr- und Wanderzeit. Er bekam bei seinen Reisen tatsächlich mitunter Erstaunliches zu sehen. Im Februar 1923 etwa fuhr er im Zug durch das Ruhrgebiet:

Von Bernd Ulrich | 03.09.2004
    Auf dem Essener Bahnhof standen verlassene Züge im Regen, die Franzosen konnten nicht mit dem komplizierten Weichensystem umgehen, die Kohlenzüge waren eingefroren, die Armada der bajonettbewaffneten senegalesischen Neger wurde mit den sabotierenden deutschen Eisenbahnern nicht fertig, das Weichensystem des Essener Bahnhofs versteht nur, wer dort aufgewachsen ist; mich tröstete, dass schon ein Weichensystem stärker sein kann als die ´Macht`.

    Stärker sein als die "Macht" hieß hier: stärker als die unter Deutschen so verhassten Franzosen. Am 9. Januar 1923 hatte die alliierte Reparationskommission festgestellt: Deutschland ist in Rückstand mit seinen Lieferungen an die Sieger des Ersten Weltkriegs geraten.

    Hunderttausend Telegrafenstangen, Bestandteil umfangreicher Holzlieferungen, hatten Frankreich nicht zum festgelegten Zeitpunkt erreicht. Für Frankreich, das die Hauptlast des Weltkrieges im eigenen Land getragen hatte, war dies ein klarer Verstoß gegen den Friedensvertrag von Versailles, der territoriale Sanktionen mehr als rechtfertigte. Schon am 11.Januar 1923 rückten wie von langer Hand geplant fünf französische Divisionen, vermehrt um einige belgische Einheiten in das Ruhrgebiet ein.

    Wenn Deutschland das nicht versteht, umso schlimmer für Deutschland! Wir werden ein so kostbares Pfand wie das Ruhrgebiet nicht aufgeben, ehe wir nicht bezahlt sind.

    So der französische Staatspräsident Poincaré. Deutschland verstand durchaus nicht. Und leistete Widerstand, in Ermangelung entsprechend starker Streitkräfte das was man heute zivilen, damals passiven Widerstand nannte. Angeordnet und vor allem finanziert von der deutschen Reichsregierung.

    In den folgenden neun Monaten, bis Ende September 1923, lähmte – selten genug, aber nun quasi im Dienste des Vaterlandes – deutscher Ungehorsam das Ruhrgebiet. Von den Unternehmern über die Zechen- und Eisenbahnarbeiter bis zur Beamtenschaft verweigerten alle die Zusammenarbeit mit der französischen Besatzung und zeigten sich flächendeckend renitent gegenüber deren Anweisungen und Befehlen. Als am 15. Februar 1923 im Auftrag des Reichskanzlers der Reichspostminister Karl Stingl an die Ruhr reiste, war er des Lobes voll über die Widerstandsbereitschaft der Bevölkerung:

    Während feindliche Flieger in der Luft kreisten, in den Gassen und Straßen der Städte Artillerie aufgefahren war und feldmarschmäßig ausgerüstete Kolonnen zugriffsbereit Aufstellung genommen hatten, ja, wie beispielsweise in Essen, direkt unter den französischen Bajonetten, stimmten unsere wackeren Männer und Frauen, nicht etwa mit verhaltener Stimme, sondern in gewaltigen Gesängen das Deutschlandlied an.

    Ein Vorgang, der unter den gegebenen Verhältnissen allein schon Zeugnis dafür war, dass unsere Abwehrkämpfer auch jedes körperliche Ungemach fürs Vaterland zu tragen bereit seien.


    Ein "Ungemach", das für manchen auch den Tod bedeutete. Denn es blieb nicht beim passivem Widerstand. Die französische Reaktion war kompromisslos. Die Gefassten endeten entweder auf einer der französischen Strafinseln oder vor Erschießungskommandos.

    Doch die Republik von Weimar saß am kürzeren Hebel, der "Ruhrkampf" war nicht durchzuhalten. Vor allem finanziell nicht. Neuerlich begann sich die Inflationsschraube zu drehen und schon vor Abbruch des passiven Widerstandes waren für einen Dollar 4,6 Millionen Papiermark zu bezahlen.

    Erst der auf amerikanische Vermittlung hin seit April 1924 vorliegende und im August desselben Jahres beschlossene so genannte Dawes-Plan brachte alle Beteiligten einer Lösung näher. Durch ihn wurden die Reparationszahlungen neu geregelt, vor allem aber ein Ende der Ruhrbesetzung in Aussicht gestellt.

    Genau das brauchte der mittlerweile amtierende Außenminister Stresemann, um der Agitation der Rechten im eigenen Land etwas entgegenhalten zu können. Stresemanns Verhandlungsgeschick war entscheidend. Und es müsse, wie Kurt Tucholsky voller Skepsis schrieb,

    Vernünftig und besonnen von einer Demokratie zur andern verhandelt werden. Dazu müssen freilich zwei da sein. Frankreich hat eine.

    Dennoch, erste praktische Erfolg des Dawes-Plans stellten sich ein. Dazu gehörte am 3. September 1924 die Anordnung der interalliierten Rheinlandkommission, die wirtschaftliche Räumung des Ruhrgebietes vorzunehmen. Das hieß: Wirtschaft und kommunale Verwaltung kamen wieder unter deutsche Leitung, eine Amnestie wurde erlassen und im öffentlichen Erscheinungsbild verschwand die Besatzung weitgehend.

    Damit war ein erster wichtiger Schritt zur vollen Souveränität der deutschen Republik und ihrer Oberhoheit über das Ruhrgebiet getan. Doch es sollte noch bis zum August 1925 dauern, bis die französischen und belgischen Truppen endgültig abzogen.