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Ende des Kosovo-Konfliktes
Als die NATO Serbien bombardierte

Vor 20 Jahren beendete die NATO ihre Luftangriffe auf die ehemalige Republik Jugoslawien. Der Krieg im Kosovo war damit vorbei, doch der Konflikt beschäftigt die Gesellschaft bis heute. Und auch Konfliktforscher und Historiker streiten über die Deutung der Ereignisse und ihrer Folgen.

Von Christian Forberg | 06.06.2019
Belgrader Feuerwehrleute am 3.4.1999 vor dem brennenden serbischen Innenministerium in Belgrad. Mehrere Marschflugkörper schlugen gegen 1.00 Uhr morgens in den benachbarten Gebäude des serbischen und des jugoslawischen Innenministeriums ein. Augenzeugen berichteten von fünf gewaltigen Explosionen im dichtbesiedelten Stadtteil um die verkehrswichtige Knez-Milosa-Straße. Die Fensterscheiben der umliegenden Wohnhäuser seien zerborsten. Die beiden getroffenen Ministerien liegen unmittelbar neben einem großen Krankenhauskomplex. Die Nato hatte erstmals seit Beginn der Offensive vor zehn Tagen das Zentrum Belgrads beschossen.
Belgrader Feuerwehrleute am 3.4.1999 vor dem brennenden serbischen Innenministerium in Belgrad. Mehrere Marschflugkörper schlugen gegen 1.00 Uhr morgens in den benachbarten Gebäude des serbischen und des jugoslawischen Innenministeriums ein. Augenzeugen b (picture-alliance / dpa)
Der Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern, zwischen dem Bundesland und der autonomen Provinz kam nicht von ungefähr. Er begann spätestens seit den 1980er-Jahren, als sich nach dem Tod von Präsident Tito das kommunistische Jugoslawien allmählich auflöste. Ethnische und nationalistische Spannungen waren die Folge. In der Endphase des Zerfalls, nachdem sich Slowenien, Kroatien und Bosnien unabhängig erklärt hatten, vollzog das auch die albanisch stämmige Bevölkerung des Kosovo, blieb aber "unter serbischer Besatzung", wie man es nannte.
Der Schriftsteller Ibrahim Rugova wurde zum Präsidenten der "Republik Kosova" gewählt. International anerkannt waren weder die Wahl noch die Republik. Als 1995 im südwestamerikanischen Dayton Serbien und Kroatien die Selbstständigkeit von Bosnien-Herzegowina anerkannten, war von Kosovo nicht die Rede.
"Es gibt ja diese Sichtweise der Kosovo-Albaner: Wir sind die Vergessenen von Dayton." Professor Stefan Troebst ist Historiker, Slawist und stellvertretender Direktor des Leibniz-Institutes für Geschichte und Kultur des östlichen Europas. Die Tagung konzipiert hat Elisa Satjukow, Historikerin an der Uni Leipzig.
"Das war letztlich auch ein Auslöser für ein Engagement der kosovarischen Befreiungsarmee, der UÇK, die gesagt hat: Gut, wenn die internationale Gemeinschaft das nicht auf ihrer Agenda hat und sich auch sonst niemand in Zukunft für unsere albanischen Belange einsetzen wird, nehmen wir das Mittel der Gewalt, um unsere Unabhängigkeit einzufordern."
Zu langsam reagiert
"Der Konflikt zwischen serbischen Sicherheitskräften und kosovo-albanischer Untergrundarmee war vorprogrammiert, und ungeachtet des Umstandes, dass die Staatengemeinschaft dann realisiert hat: Hoppla, da reift ja der nächste Krieg heran!"
Man habe eher diplomatisch "tiefe Besorgnis" geäußert, sagt Stefan Troebst. Die Serben reagierten mit einem Achselzucken und machten weiter wie bisher, die Kosovo-Albaner schätzten nüchtern ein:
"Besorgnis ist keine Politik. Als man realisierte, dass die Hütte jetzt richtig brennt, das war ab Herbst 1998, da hat man alle Druckmittel, die man hatte, auf Milošević und die UÇK und so weiter angewendet. Aber das hat nicht mehr verfangen. Als die serbische Seite die letzte Verhandlungsinitiative im Schloss Rambouillet bei Paris ohne Unterschrift verlassen hat, da war klar: das war’s jetzt."
"Illegal, aber moralisch legitimiert"
Die Intervention begann am 24. März 1999, verursacht durch einen Vertragsanhang, der der NATO die vollständige Bewegungsfreiheit in der gesamten Bundesrepublik Jugoslawien – also Serbien inklusive Kosovo und Montenegro – gewähren sollte. Zwar war das als internationale Friedensmission gedacht. Die serbische Seite bewertete es jedoch als Verstoß gegen die staatliche Souveränität und voraussichtliche Annexion - und lehnte eine Unterschrift ab. Aus der politisch unbedachten Formulierung wurde der Zündstoff, der in die 78 Tage währende militärische Intervention der NATO mündete, ohne vom UN-Sicherheitsrat ein entsprechendes Mandat erhalten zu haben.
"Ein amerikanischer Völkerrechtler hat gesagt: Die Intervention war in technischer Hinsicht illegal, aber moralisch legitimiert. Das ist für einen Juristen eine ziemlich unglückliche Aussage."
Jurist ist auch Professor Avdylkadër Muçaj. Er lehrt an Ukshin Hoti Universität Prizren. Als Kosovare und damit Betroffener erachtet er die Intervention auch als juristisch legitimiert und kann der Unterscheidung nicht viel abgewinnen.
"Eine Menge Wissenschaftler haben die humanitäre Intervention eingeengt. Die NATO-Intervention im Kosovo war für die Menschen und ihre Souveränität gedacht. Andere deutsche Autoren haben die NATO-Intervention als Wahrung der Menschrechte unterstützt. Jeder, der 1999 die schlimme Situation in Kosovo kannte, war einverstanden."
Die Büchse der Pandora
Schließlich habe sie in voller Übereinstimmung mit der internationalen Konvention zur Wahrung der Menschrechte stattgefunden. Und schließlich habe nicht irgendwer eingegriffen, sondern die westliche, demokratische Welt.
Aber das sahen nicht alle Tagungsteilnehmer so. Was würde, wenn jedes Volk, das unabhängig werden will und sich bedroht fühlt, auf ein militärisches Eingreifen von außen drängen und langwierigen politischen Verhandlungen vorziehen würde? Eine Büchse der Pandora würde geöffnet. Andererseits: Hatten nicht im Sommer 1995 serbische Politiker verhandelt, während serbisches Militär das Massaker von Srebrenica verübte?
Bosnische Muslimas beten in Potocari (Bosnien) vor Särgen von Opfern des Massakers von Srebrenica die in einer Gedenkstätte aufgestellt wurden.
Gedenken an die Opfer von Srebrenica (dpa)
Parallelen, aber auch Unterschiede zu anderen humanitären militärischen Interventionen kamen zur Sprache. Professor Bernhard Stahl, Politikwissenschaftler an der Uni Passau, belegte, dass die deutsche Teilnahme an der Kosovo-Intervention ein weitreichendes Umdenken in der, wie er es ausdrückte, bisherigen Politik des Beschweigens von Gräueltaten bedeutete. Zwölf Massenmorde seit 1990 hatte er in seine Untersuchung einbezogen.
Dr. Thorsten Gromes vom Peace Research Institute Frankfurt am Main listete 41 humanitäre militärische Interventionen auf, beginnend 1960. Rund die Hälfte fand in Afrika statt; allein viermal wurde im Kongo eingegriffen. 29 Fälle waren mit UN–Mandat abgesichert, zwölf, darunter der Kosovo, nicht.
Folgen für die deutsche Politik
"Es ist natürlich hier bei uns in Europa mit die prominenteste Intervention, gerade hier in Deutschland mit erheblichen innenpolitischen Konsequenzen. Deswegen ist Kosovo auch so stark präsent. Und natürlich auch: die deutsche Politik war ja von den Folgen sehr, sehr betroffen, wenn man Südosteuropa insgesamt nimmt, also Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo. Das heißt das Interesse, die Aufmerksamkeit war viel, viel größer, als was wir sonst erleben, was Konflikte auf sich ziehen."
Auch der massive Einsatz allein aus der Luft, vor allem die Bombardements von Zielen in Serbien, waren nicht außergewöhnlich. Thorsten Gromes verwendete dafür den Begriff "Post-heroisch".
"Post-heroisch in dem Sinne: wir opfern uns nicht mehr, bieten uns dar. Sondern wir wollen eigene Opfer vermeiden. Das war damals in der NATO ganz stark in dem Sinne, dass die Piloten lange Zeit die Anweisung hatten, sie sollten über 5.000 Meter fliegen, damit sie außerhalb der Reichweite der serbischen Flugabwehr sind. Das heißt, die Sicherheit der Piloten hatte im Grunde Vorrang vor dem Auftrag, die jugoslawischen Kräfte im Kosovo möglichst einzuschränken."
Das gelang nicht immer. Ein Fall – im wahrsten Sinne des Wortes – wurde besonders prominent und nochmals auf der Tagung besprochen: der Abschuss eines sogenannten Tarnkappenflugzeugs F-117 bereits am dritten Tag der Intervention. "Welch ein Triumph serbischen Widerstands gegen die NATO-Aggressoren!", so die Lesart in serbischen Medien. Daran scheint sich bis heute nicht viel geändert zu haben, meint Elisa Satjukow.
"Das ist ja das Interessante, dass vor Allem – schon allein semantisch – die Erinnerung allein auf den NATO-Angriff fokussiert. Das heißt, der Kosovo kommt nur dann vor, wenn es um den Kampf gegen die UÇK-Terroristen geht; aber eigentlich geht es allein um die 78 Tage des NATO-Angriffs, und der Kontext wird komplett außen vorgelassen. Das hat seinen Anfang 1999 gefunden und setzt sich bis heute fort. Das wird genauso in serbischen Schulbüchern gelehrt. Da steht drin: Auf Grund des Scheiterns der Konferenz in Rambouillet beginnt die NATO-Intervention; die ungerechte, illegitime Aggression gegen ein kleines, starkes Land, das sich heldenhaft verteidigt hat. Das sind so Phrasen, die immer wieder kommen."
National-patriotische Argumentation
2.500 Zivilisten seien getötet worden; von den 8 000 Bosniern, die in Srebrenica ermordet wurden, ist keine Rede, existiert anscheinend kein Zusammenhang. "In Serbien gibt es ihn nicht. Er existiert nicht als eine Idee, ein Argument in der Öffentlichkeit." Katarina Ristić, in Serbien geboren und in Leipzig promoviert, war Partnerin von Elisa Satjukow bei der Vorbereitung der Tagung.
"Es gab eine kurze Periode während der Amtszeiten von Đinđić und Tadić (2001-2012), in der einige Dinge geschahen, die eine Art von Öffentlich-Machen waren, zum Beispiel die Öffnung einiger Massengräber nahe Belgrad und die Exhumierung albanisch-stämmiger Opfer. Darüber wurde in den Medien berichtet. Es wurde nicht alles verschwiegen, was geschehen ist. Was hauptsächlich gegen Ende des Zeitraums passierte, ist, dass es investigative und demokratische Regierungen in dieser Periode nicht wirklich erreichten, Nachfolgethemen zu öffnen, die auf die strafrechtliche Verantwortung des Milošević-Regimes hinweisen, und mehr Verantwortung für das Geschehene zu übernehmen."
Und so gelang es den konservativen Nachfolgeregierungen, zurück in die einstigen Sprachregelungen zu verfallen: das kleine, tapfere Serbien wurde Opfer der NATO-Aggression. Goliath siegte gegen David. Aber auch die Albaner im Kosovo argumentierten nicht weniger national-patriotisch.
Nachkriegsgeschichte dauert an
Dr. Werner Distler, Konfliktforscher an der Uni Marburg, ordnete beide Kommunikationsstrategien in das System des "securitised statebuilding" ein.
"Securitisation-Theory ist eine ganz spezielle Theorie, die sagt, dass Sicherheit etwas ist, das wir nicht einfach erkennen, verstehen können, sondern was politisch gemacht wird. Das Beispiel Migration ist ein ganz klassisches Feld für securitised language, indem gesagt wird: ‚Eine Welle der Migration, wir werden überrannt – deshalb müssen wir etwas tun‘. Stellen Sie sich einen Diskurs vor, der permanent durch diese Bedrohungsszenarien geprägt ist. Das hat natürlich auch Risiken."
Erst recht, wenn weitreichende Schritte wie die Umwandlung der kosovarischen Sicherheitskräfte in eine reguläre Armee angekündigt werden – schließlich habe man 2008 seine Unabhängigkeit durch Staatsbildung bekräftigt. In der UN-Resolution 1244 wurde jedoch der Rechtsstatus nicht geklärt. Etwas mehr als die Hälfte der UN-Mitglieder hat Kosovo trotzdem anerkannt, die anderen nicht.
Die – wenn man so will – Nachkriegsgeschichte ist noch lange nicht vorbei. Jaume Castan Pinos, gebürtiger Katalane und außerordentlicher Professor der Politikwissenschaft an der Süddänischen Universität, stellte auf der Tagung sein Buch "Kosovo und die Nebenwirkungen der humanitären Intervention" vor. Sein Resümee klingt ernüchternd. "Zu bomben ist einfach, eine politische Übereinkunft zu erreichen ist es nicht."
20 Jahre nach der Intervention habe es den Anschein, dass man in Rambouillet lieber weiter mit Serbien hätte reden sollen – die politischen Bedingungen seien ja akzeptiert worden. Die Folgen der militärischen Intervention seien umso schlimmer geworden.
Das Gebäude des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Im Vordergrund ein Brunnen.
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (AP)
"Ich behaupte, dass zwischen 80 und 87 Prozent der Opfer während oder nach der Intervention verursacht worden sind. Das Verhindern von Gewalt führt zu mehr Gewalt. Und das ist durchaus nicht nur mein Argument. Das hat auch Carla del Ponte gesagt."
Die Chefanklägerin des Internationalen Gerichtshofes für die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien. Jaume Pinos sprach von etwa 1.500 Opfern vor der Intervention, die ein Jahr dauerte, aber rund 10.000 während und nach der 78-Tage-Intervention. Andere Zahlen nannte Thorsten Gromes: Die einen waren ähnlich hoch. Die anderen vom Uppsala Konflikt-Datenprogramm UCDP lagen weit niedriger, weil sie nur die Zahl der Toten, jedoch nicht der Vermissten wiedergeben. Aber auch bei diesem Vergleich stieg die Zahl der Toten während der Intervention. Bei den meisten anderen von Thorsten Gromes untersuchten Interventionen sei sie jedoch gesunken, dank des Eingreifens. Ob aber die Interventionen die wirkliche Ursache für ein Wachsen oder Sinken der Opferzahl war, sei damit jedoch nicht nachgewiesen.
Gesellschaft durch Konflikt geprägt
Nichts desto trotz hat die internationale Staatengemeinschaft unmittelbar nach Ende der Intervention konstruktiv gehandelt: Am 10. Juni 1999 wurde der Stabilitätspakt für Südosteuropa in Köln verabschiedet. Seine Eckpunkte waren die Schaffung sicherer und rechtsstaatlicher Verhältnisse, der Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung und der wirtschaftliche Wiederaufbau. 40 Staaten beteiligten sich. Darunter waren Bosnien-Herzegowina und Serbien inklusive Kosovo; Slowenien und Kroatien jedoch nicht. Dr. Vladimir Filipović von der Uni Zagreb begründet:
"Dieser Pakt war in Kroatien nicht willkommen. Er wurde verstanden als möglicher Plan für den Beitritt aller Länder des westlichen Balkans. Kroatien ist mehr ein Teil Zentraleuropas und des Mittelmeerraums als des Balkans. Kroatien wollte ein individuelles Verfahren für alle Länder der Region. Wir wollten nicht warten, bis Kosovo der europäischen Union beitreten kann."
Im Rahmen dieses Paktes wurde unter anderem begonnen, Polizei- und Sicherheitskräfte für den Kosovo nach westeuropäischen Standards auszubilden; Werner Distler interviewte 2007 und 2008 deutsche Ausbilder und verfasste seine Dissertation unter dem Titel "Intervention als soziale Praxis".
"Dieser Begriff der Soziologie der Intervention konzentriert sich vor allem auf gesellschaftliche Prozesse: Was passiert, wenn in einer Gesellschaft, die sowieso durch Konflikt geprägt ist, die sowieso große Schwierigkeiten hat, sich selbst zu definieren, eine große Menge Menschen aus anderen Gesellschaften hinzukommt und in ganz wichtigen Bereichen wie der Polizei Verantwortung übernimmt."
Viele der Befragten äußerten sich ernüchtert; sie hatten es sich einfacher vorgestellt, mussten aber akzeptieren, dass die Kosovaren anders geprägt waren und doch lieber unter sich bleiben wollten. Dennoch:
"Es gab viele Impulse im Bereich Bildung, Gesetzesveränderungen, Demokratisierungen. Aber die Idee, wenn Sie in die Mandate schauen, ist nicht zum Abrechnen. Also dass es aufgeschrieben wird als Ziel eine komplette gesellschaftliche Veränderung in so wenigen Jahren – das ist nicht zu erreichen."