Donnerstag, 25. April 2024


Ende exaltierter Jammerei

Wenn ich etwas über das Wesen des deutschen Patriotismus lernen will, fahre ich Zug. Und zwar ins Ausland, sagen wir, durch Slowenien.

Von Juli Zeh | 29.09.2006
    Es ist Urlaubszeit. Ich teile mir eine Vierersitzgruppe mit einem Italiener, einem Österreicher und einem Kroaten und beginne in dieser Gesellschaft ganz automatisch, auf Deutschland zu schimpfen - selbstverständlich in englischer Sprache. Es ist ein Reflex, so wie man niesen muss, wenn man am Pfefferstreuer riecht. Zuerst schimpfe ich auf die Deutsche Bahn, dann auf die deutsche Politik und das deutsche Pressewesen und schließlich auf das Land im Allgemeinen, bis der mir gegenüber sitzende Kroate erstaunt die Augenbrauen hochzieht und mich unterbricht.

    "Wieso", sagt er, "ihr Deutschen habt doch das beste Verkehrssystem in Europa!"

    "Und die sauberste Politik", ergänzt der Italiener.

    "Und die anspruchsvollste und vielfältigste Presselandschaft der Welt", fügt der Österreicher hinzu.

    "Nicht nur, dass eure Bürgersteige aufgeräumt sind..." fährt er fort.

    "Und die Politiker NICHT korrupt!", wirft der Italiener ein.

    "Wenn man an der Bushaltestelle steht", ruft der Kroate, "kommt auch noch ein Bus! Und zwar nach Fahrplan. Einfach unglaublich."

    Ein wenig beschämt blicke ich aus dem Fenster in die (natürlich viel schöneren!) ausländischen Landschaften und weiß, dass ich in diesem Moment genauso deutsch bin wie mein Land. Denn unsere herausragendste Fähigkeit besteht darin, alles einigermaßen richtig zu machen und dabei alles richtig grauenvoll zu finden.

    Der vieldiskutierte, neue Patriotismus, dessen virtuelle Geburtsstunde die erfolgreiche Ausrichtung der Fußball-Weltmeisterschaft markiert, zeigt sich in erster Linie in dem Eingeständnis, dass bei uns in Wahrheit alles nicht ganz so schlimm ist, wie wir dachten - oder wie wir jedenfalls ständig und lautstark behauptet haben. Und wessen Expertise erlaubt es uns, die notorische Selbstgeißelung wenigstens vorübergehend einzustellen? Wer hat uns diese sagenhafte Erkenntnis beigebracht? - Die Kroaten, Italiener, Österreicher und so fort, kurz: unsere ausländischen Freunde und Nachbarn.

    Das ist kein Anlass zur Beunruhigung, das ist eher ein Grund für temporäre Entspannung. Nur eins sollte beim Fahneschwenken nicht vergessen werden. Die deutsche Neigung zu übersteigerter Selbstkritik war niemals Ausdruck einer angeborenen Bescheidenheit. Vielmehr ist unser traditioneller, seit dem Zweiten Weltkrieg zur Staatsphilosophie erhobener Hass auf die eigene Herkunft den Mechanismen eines handelsüblichen Nationalismus nicht unähnlich. Auf den ersten Blick mag das paradox wirken. Beim genaueren Hinsehen lässt sich jedoch leicht erkennen, dass die kollektive Selbstanklage ebenso eine Form der nationalen Egozentrik darstellt wie die gemeinsame Selbstverherrlichung - und deshalb unschwer in diese umschlagen kann.

    Wie wäre es also, wenn wir das Wesen eines positiven deutschen Patriotismus in zwei Schritten definierten: Erstens hören wir einfach auf, uns selbst und unser Land permanent unerträglich zu finden - denn das kam, gemessen an den Realitäten, schon immer einer Undankbarkeit von unappetitlichem Ausmaß gleich. Dabei verzichten wir, zweitens, auf die Idee, dass wir, wenn schon nicht schlechter, dann aber wohl besser als alle anderen sind.

    Denn was wir zu entdecken beginnen, nämlich die Erleichterung über das Ende exaltierter Jammerei, muss weder durch die Etablierung einer deutschen Leitkultur, noch durch neo-selbstbewusste Integrationsforderungen oder pseudo-abendländische Kulturkampfparolen verteidigt werden. Es muss gar nicht verteidigt werden, weil es durch nichts und niemanden bedroht ist. Außer uns hat das Problem sowieso noch nie jemand verstanden. Wer es nicht glaubt, fährt Zug.


    Schon als Kind, so Juli Zehs Selbstauskunft, habe sie mit dem Schreiben begonnen. 2001 debütierte die 1974 in Bonn geborene Schriftstellerin erfolgreich mit dem Roman "Adler und Engel". Dazwischen studierte Juli Zeh Literatur und Jura. In ihren Büchern geht es unter anderem darum, wie Sinn und Moral neu aufgebaut werden können, wenn tradierte Werte unter den Vorzeichen von Globalisierung und Individualisierung bedeutungslos geworden sind.
    Juli Zehs Musikwunsch: "Beautiful Boyz" von Coco Rosie.