Freitag, 19. April 2024

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Endlich mal erklärt
Braucht der Tanz ein Bühnenbild?

Schlösser wie in Dornröschen, der Hafen von Neapel, indische Tempel, Wälder, Seen und schottische Moore. Den Bühnenbildnern der großen Handlungsballette im 19.Jahrhundert war nichts zu schwer. In der Moderne wurden die Tanzbühnen wieder leerer - bis auf eine berühmte Ausnahme.

Von Wiebke Hüster | 03.01.2021
"Theme and Variations" by George Balanchine am Berliner Staatsballett, Mai 2019
"Theme and Variations" by George Balanchine am Berliner Staatsballett im Mai 2019 (Staatsballett Berlin / Yan Revazov )
Es fing schon so spektakulär an, mit Apparaturen für Versenkungen und Verwandlungen und mit fliegenden Ballerinen im neunzehnten Jahrhundert. Für den "Schwanensee" fuhren künstliche Schwäne auf verdeckten Schienen durch einen See aus bewegten Stoffbahnen, die sich kräuselten wie leichte Wellen. Indische Tempel, verwunschene Wälder, Winzerdörfer, verzauberte Gärten: Alle möglichen exotischen Schauplätze wurden mit Trompe l’oeil herbeigemalt und mit künstlichem Marmor, Seen aus Seide und fahrenden Schiffen aus Pappe ausgestattet. Wälder entstanden, indem Hunderte von Seidenblättern in Netze genäht wurden und sich so in die Baumkronen über gemalten Baumstämmen verwandelten. Hinter einander gehängt, erzeugten sie die Illusion eines ganzen Waldes. Die Beleuchtung war feuergefährlich, der Platz begrenzt.

Der Körper wird zum Bühnenbild

Im zwanzigsten Jahrhundert wird das alles beiseitegeschoben. Loie Fuller tritt vor ihrem amerikanischen Publikum in Revuetheatern auf und hat das Bühnenbild gleichsam am Körper. In ihrem "La Danse Serpentine" etwa tanzt sie mit großen, schwenkbaren Flügeln. Dass sie unter der hölzernen Konstruktion, an der die schmetterlingshaften Stoffbahnen befestigt sind, nicht zusammenbricht, verwundert. Isadora Duncan tanzt barfuß um den Konzertflügel auf leerer Bühne, sie braucht nur Rosenblätter, die sie verstreut und ihre Schleier-Reformkleider: Persönlichkeit und Expressivität des menschlichen Körpers stehen beim Modernen Tanz ungestört im Zentrum. Nichts soll von der Bewegung der neuen, befreienden und befreiten Bewegung ablenken.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären die Begriffe und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut.
Doch auch der neoklassische Tanz wirft die romantische Ausstattung weg und schiebt die Kulissen und Gassen von der Bühne. George Balanchine zeigt sein New York City Ballet in schlichten Trikots vor dem stets gleichen, himmelblau ausgeleuchteten Hintergrund. Nichts soll den Blick auf die reine, abstrakte, moderne Tanzkunst, das neoklassische Ballett, verstellen. Nur Pina Bauschs Bühnenbildner, erst Ralf Borzik und dann Peter Pabst, machen es anders. Sie bedecken den Bühnenboden mit Torf oder setzen ihn komplett unter Wasser. Oder sie bauen einen riesigen Hügel auf ein Aquarium oder eine Mauer, die einstürzt.

Licht und Schatten

In zeitgenössischen Tanzproduktionen wird mit dreidimensionalen Projektionen gearbeitet oder mit Filmausschnitten wie bei Michael Laub; mit vergrößerten Gemälden, etwa von Roy Lichtenstein für Merce Cunningham. Vollkommen ohne Bühnenbild oder mit Stoffgassen wird hier die die Bühne in ein konstruktivistisches Gemälde, eine Art Energiefeld verwandelt.
Es gibt einerseits die Illustratoren und Kulissenbauer und andererseits die Künstler. Manchmal, wie bei Michael Hull für Russell Maliphant, ist der Lichtdesigner der Bühnenbildner, indem er mit Licht klar definierte Räume schafft. Man könnte auch sagen, je stärker die Tanzsprache als solche inhaltlich dominiert, je weniger Bühnenbild gibt es. Je narrativer oder assoziativer es ist, desto mehr Dekoration.

Film und Virtual Reality

Natürlich spielen auch materielle Bedingungen eine große Rolle. Wird das Stück überwiegend stationär gespielt oder nur für eine größere Anzahl von Vorstellungen verschifft? Ist das Budget klein? Interessant ist, wie sich der Tanz der Gegenwart die digitalen Technologien zunutze macht und mit ihnen eine der ältesten Kunstgattungen, für deren Praxis man eigentlich nur den Körper braucht, in die Zukunft vorausschickt. Auf der Biennale von Lyon 2018 zeigten Schweizer und französische Choreografen fantastische Arbeiten mit Virtual Reality.
Durch den Einsatz dieser Technologien findet sich nicht nur der mit einer VR-Brille ausgestattete Zuschauer mitten auf der Bühne wieder, wo er übrigens noch nie stand! Es lässt sich auch jede leere Tanzfläche in jeden beliebigen Ort der choreografischen Fantasie verwandeln. Der Tanz, ohnehin eine Kunst, die die Entgrenzung in verschiedenen Hinsichten sucht, hat sozusagen die irdische, die materielle Bodenhaftung verloren und dringt in neue Dimensionen vor.