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Endlich mal erklärt
Kann Tanz politisch sein?

Das klassische Ballett wird gemeinhin mit Eskapismus und schönem Schein assoziiert, das Tanztheater deutscher Prägung dagegen mit sozial- und gesellschaftskritischen Inhalten. Doch wie politisch kann der Tanz wirklich sein?

Von Elisabeth Nehring | 07.06.2020
"Die 120 Tage von Sodom", Theaterstück nach Marquis de Sade und Pier Paolo Pasolini, Regie: Johann Kresnik, in der Volksbühne Berlin, (v.l.): Ismael Ivo (George), Sara Simeoni (Tänzerin).
Politisches Tanztheater von Choreograf Johann Kresnik - "Die 120 Tage von Sodom"" (picture alliance / dpa / Eventpress Hoensch)
Beispiele für den politischen Charakter des Tanzes gibt es viele: 1932 wurde Kurt Jooss' Antikriegsballett "Der Grüne Tisch" in Paris uraufgeführt. 1933 emigrierte er nach Großbritannien.*
Die Szenen, die wir von Fotografien kennen, wirken aus heutiger Sicht fast plakativ: Tanzende Generäle mit fratzenhaften Gesichtern, die am Grünen Tisch zusammenkommen und über das Schicksal von Millionen Menschen entscheiden. Und doch war "Der Grüne Tisch" ein hellsichtiges Tanzstück, das Geschichte geschrieben hat – denn in ihm haben sich die politischen Zeichen der aufkommenden neuen Zeit verdichtet.
Bewegungslosigkeit als Protestform
Auch außerhalb der Bühne finden sich Beispiele für die politische Kraft des Tanzes und der körperlichen Bewegung. Der türkische Choreograf Erdem Gündüz stand 2013 acht Stunden bewegungslos auf dem Taksim-Platz, den Blick auf ein Plakat von Atatürk gerichtet.
Das Subversive dieser Aktion lag in der Verwirrung, die sie auslöste: Die Polizei wußte nicht, wie umzugehen mit diesem stillen, unbeweglichen Protest und löste das Ganze erst auf, als sich immer mehr Menschen anschlossen. Das Beispiel dieses stillen, gewaltfreien, körperlichen Protests wurde von den Medien blitzschnell in alle Welt verbreitet. Erdem Gündüzs Performance "Standing Man" wurde und wird als Appell für das Fortbestehen der Türkei als laizistischer Staat bei vielen weiteren Protesten und Demonstrationen wiederholt.
Tanz als Rückversicherung der kulturellen Identität
Widerstand durch Bewegung und Tanz findet man auch in den Volkstänzen, gerade dort, wo Minderheiten unterdrückt und ihre kulturellen Praktiken verboten wurden. Im sozialistischen Rumänien zum Beispiel war es der ungarischen Minderheit untersagt, ihre eigenen Tänze zu tanzen. Dass sie es doch taten, hing einerseits mit der Rückversicherung der eigenen kulturellen Identität zusammen und war andererseits eine Form des Widerstands.
Dagegen steht die lange Geschichte der politischen Inanspruchnahme des Tanzes durch politische Ideologien. Für die Nationalsozialisten war der Tanz ein Teil ihrer Gesamtinszenierung: Fotos von Gruppenchoreografien zeigen Tausende junger Menschen, die sich an den an den Händen fassen und zu ihrem "Führer" schauen oder ein Hakenkreuz bilden. Der Körper wird damit in den dreißiger Jahren zum Träger der politischen Ideologie – genauso wie bei der Tänzerin Mary Wigman, die im Ausdruckstanz das "deutsche Wesen" wiedererkannte und mit ihren Choreografien eine deutsch-völkische Gemeinschaft stiften wollte.
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Neue Körperbilder im Tanz
Aus Sicht der Kirche hatte der Tanz über die Jahrhunderte hinweg etwas Bedrohliches: Die Auffassung, das Tanzen stehe für körperliche Entgleisungen und damit für unkontrollierte Abweichungen vom vorgegebenen Verhaltenskodex findet sich zum ersten Mal im Alten Testament (beim Tanz ums Goldene Kalb) und setzt sich über die Jahrhunderte fort.
Heute findet sich das Politische im Tanz nicht nur auf, sondern auch hinter der Bühne: In neuen Arbeitsweisen, die nicht mehr auf Hierarchien, sondern auf kollektive und gemeinschaftliche Entscheidungen setzen. In der Hinwendungen zu neuen Körperbildern und der Tatsache, dass z.B. Menschen mit Behinderungen Tänzer*innen, Choreograf*innen und Kurator*innen sein und damit selbst entscheiden können, wie sie wahrgenommen werden wollen.
*An dieser Stelle im Text wurde eine Formulierung zur Entstehung des Ballettstücks sowie eine Jahreszahl zum Zeitpunkt der Emigration korrigiert.