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Endlich mal erklärt
Warum sitzt die Souffleuse nicht mehr im Kasten?

Die Souffleuse hilft bei Texthängern und Gedächtnislücken. Lange Zeit versteckt im Souffleusenkasten, ist sie heute nicht selten Teil des Spiels. Denn im modernen Bühnenraum hat die barock verzierte Bühnen-Muschel keinen Platz. Und Texthänger sind, je nach Inszenierung, auch kein Drama mehr.

Von Barbara Behrendt | 05.06.2020
Souffleur/Souffleuse-Arbeitsplatz der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf.
Geflüster vom Bühnenrand: In der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf sitzt die Souffleuse noch traditionell im Souffleusenkasten (picture alliance / dpa / Roland Weihrauch)
Wer im Theater schon mal weit vorn gesessen hat, dem ist sie womöglich aufgefallen: Die Frau in der ersten Reihe mit dem Klemmbrett in der Hand, darauf Textblätter und ein kleines Lämpchen. Die Souffleuse sitzt heute meistens im Parkett, für alle Zuschauer sichtbar. Anders als im Barocktheater, wo sie sich unter großen, verzierten Bühnen-Muscheln verstecken konnte.
Es ist absurd: Heutzutage lässt man die Souffleuse aus der ersten Reihe rufen und macht damit die Fehler der Schauspielerinnen und Schauspieler ganz offen sichtbar. Der Grund: Diese Texthänger werden weniger als Fehler gewertet als das in den großen Zeiten des Illusionstheaters noch der Fall war. Das Illusionstheater gibt es zwar noch heute, wenn Schauspieler auf der Bühne vorgeben, sie befänden sich in einer abgeschlossenen Welt. Doch viel häufiger ist die so genannte Vierte Wand zum Publikum längst gefallen – und wo keine komplette Bü̈hnenillusion mehr vorgegaukelt wird, müssen auch die Gedächtnislücken nicht vertuscht werden.
Damals unsichtbare Flüsterstimme, heute Mitspielerin
Noch an Peter Steins Schaubühne wäre es unvorstellbar gewesen, die Textpannen der Spieler mit einem Zuruf aus dem Parkett zu korrigieren. Damals hatte die Souffleuse ihren Namen noch zu Recht: Sie flüsterte, und zwar versteckt von der Bühne aus. Wer einen Hänger hatte, blieb in der Regel unentdeckt. Heute zeigt man den Spickzettel öffentlich. Manchmal bezieht man die Souffleuse sogar ins Spiel ein: Mit ihr wird diskutiert, gezankt, geflirtet; sie muss unbesetzte Rollen vorlesen oder epische Texte rezitieren.
Doch auch bei Peter Stein gab es keinen Souffleusenkasten mehr, die Souffleuse saß meistens in der Gasse, also dort, wo die Schauspieler die Bühne betreten. Das hat mit der künstlerischen Aufwertung der Bühnenbilder zu tun. Seit der Souffleusenkasten vor rund dreihundert Jahren groß in Mode kam, hat er den "Einflüsterer" mehr oder weniger dezent auf der Bühne versteckt: Von einer fast unsichtbaren, halb offenen Luke, im Boden eingelassen, bis zur dekorativen Venusmuschel war alles erlaubt. In einem realistischen Bühnenbild à la Hauptmanns "Ratten", wo der Dachboden laut Regieanweisung mit Requisiten vollsteht, war ein Kasten jederzeit unterzubringen.
Kein Platz für den Kasten im modernen Bühnenraum
Der Kunstanspruch bei Theaterräumen ist in den Nachkriegs-Jahrzehnten jedoch deutlich gewachsen – sie haben sich zu autonomen Kunstwerken emanzipiert. In Olaf Altmanns "Ratten"-Bühnenbild krümmen sich die Menschen in einem schmalen Schlitz, eingeklemmt zwischen zwei massiven Holzplatten. Undenkbar, dass ein Souffleurkasten diese Bühne verunstaltet. Die stilprägenden Bühnenkünstler der vergangenen Jahrzehnte haben die Souffleuse überall von der Bühne verdrängt.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Ob Schauspielerinnen und Schauspieler inzwischen wirklich unberührt vom eigenen Texthänger sind, ist individuell zu betrachten. Bei Inszenierungen von René Pollesch etwa steht die Souffleuse oft mit auf der Bühne und wird so zu einem Teil des Ensembles. Die vielen Aussetzer, die es in den verschwurbelten Pollesch-Monologen gibt, gehören zum Spiel, zur Unterhaltung. Auch ein Schauspieler wie Lars Eidinger sieht es eher sportlich und würde wohl frei mit der Souffleuse und dem Publikum improvisieren, wenn er mal nicht weiter weiß. Thomas Ostermeier, Künstlerischer Leiter der Schaubühne, sagt dagegen, das sei immer noch mit das Schlimmste, was einem Spieler auf der Bühne passieren könne.
Es kommt selbstverständlich auch auf die Inszenierung an: Ein Hänger in einer unterhaltsamen Theater-Show mit Ansprache ins Publikum kann schrecklich komisch sein. Wohingegen es eher peinlich wäre, hätte Ulrich Matthes einen Aussetzer im Beziehungsdrama "Gift", das den Tod des Sohns dieses Paares sehr ernst verhandelt.
Die ersten Männer im Souffleurkasten
Männer gibt es in diesem Beruf übrigens auch – aber selten. Das kann man mit Klischees begründen: Ein Beruf, der viel Empathie verlangt, gilt schnell als klassischer "Frauenberuf". Zudem ist es ein schlecht bezahlter Job, man hat jeden Abend Vorstellung, tagsüber sitzt man in den Proben, es gibt keine Aufstiegschancen – Männer mit traditionellem Rollenverständnis empfinden das wohl als wenig erstrebenswert. Historisch betrachtet liegt es jedoch an der tieferen Stimme von Männern, die auf der Bühne schlicht lauter zu hören ist. Die ersten Männer im Souffleurkasten gab es erst im 19. Jahrhundert.
Anspruchsvoller Job
Man darf den Beruf allerdings nicht unterschätzen: Die Souffleuse soll sensibel sein – aber ein dickes Fell haben; sie darf um Himmels Willen den Probenprozess nicht stören, soll unsichtbar sein – aber innerlich jede Sekunde beteiligt; sie soll mit dem Schauspieler "mitatmen" und ihm den Text eingeben – aber nur, wenn er ihn wirklich braucht. Für Theater ist es unglaublich schwer, eine kompetente Souffleuse oder einen kompetenten Souffleur zu finden, wie Tobias Veit, der Direktor der Schaubühne, einmal sagte. Doch wenn es mit einer Souffleuse richtig gut klappt, so Veit, sei sie everybody’s darling. Schließlich ist sie bei jeder Vorstellung dabei und kennt die Spieler und die Produktion so gut wie sonst niemand.