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Endlich mal erklärt
Was ist Postdramatik?

Jeder, der in den vergangenen 30 Jahren eine Theaterkritik gelesen hat, wird diesen Begriff kennen: Postdramatik. Er gehört zum festen Instrumentarium eines jeden Theaterkritikers, Dramaturgen und Theaterwissenschaftlers. Er markiert den Bruch zwischen Schauspieler und Figur.

Von Barbara Behrendt | 22.03.2020
Eine leere Theaterbühne
Eine leere Theaterbühne (imago/AGB Photo)
Zuerst aufgebracht hat den Begriff "Postdramatik" der Theaterwissenschaftler Andrzej Wirth Mitte der 1980er Jahre. Er beschreibt damit seine Wahrnehmung, dass immer häufiger neue Medien ins Theater einfließen. Vorreiter dieser Theaterformen waren Robert Wilson mit seinem perfekt durchchoreografierten Bildertheater und Pina Bausch, die mit einem Tanztheater weltberühmt wurde, in dem der Körper Wahrheitsträger ist. Das Postdramatische Theater nimmt den Text weniger wichtig – und vertraut stattdessen anderen Mitteln: Körpern, Musik, Bildern. Populär ist der Begriff "Postdramatisches Theater" 1999 geworden, als der Theaterwissenschaftler Hans-Thieß Lehmann sein Standardwerk mit diesem Titel herausgab.
Die Schauspieler glauben nicht mehr dem, was ihre Figur sagt
Der Begriff ist fürs Theater deshalb so unersetzlich geworden, weil er den großen Bruch kenntlich macht, der durch das Misstrauen in die Sprache eingetreten ist. Eine Folge: Die Schauspieler glauben nicht mehr dem, was ihre Figur sagt – das Ende psychologischer Einfühlung. Man möchte Figuren nicht mehr verstehen, sondern dekonstruieren. Einer der wichtigsten Vertreter des postdramatischen Theaters ist der Dekonstruktivist Frank Castorf. Er macht ein Theater der Montage, von Sprachzersetzung und Sinnentzug.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt
Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Das Theater in Deutschland ist ohne Postdramatik nicht mehr zu denken. Viele neue Mittel und Formen haben durch sie Eingang gefunden ins Theater. Auch in der Dramatik: Schon Dramen von Bertolt Brecht und Peter Handke brechen aus dem bekannten Schema aus. Die Textflächen von Elfriede Jelinek ohne jede Rollenzuschreibung ohnehin.
Post-Postdramatik?
Problematisch bleibt, dass das Misstrauen in die Figuren, in Psychologie oft zu langweiligen Besserwisser-Abenden führt, in denen der Regisseur sich über den Autor stellt. Ohne Figuren fehlt jeder Konflikt, der den Abend antreiben könnte. Das macht Postdramatisches Theater oft verkopft und diskurslastig.
Inzwischen gibt es wieder eine Sehnsucht nach psychologischen, politisch agierenden Figuren, mit denen wir uns als Zuschauer identifizieren können. Zu sehen im Theater von Thomas Ostermeier etwa. Der große Hype der Postdramatik ist am Abflauen.