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Endlich mal erklärt
Was ist so neu an Neuer Musik?

Ähnlich wie in der Frage, was denn eigentlich Moderne Kunst sei, liegt auch im Fall der Neuen Musik die Antwort im Auge beziehungsweise im Ohr des Rezipienten. Man darf an die Sache durchaus subjektiv herangehen. Dennoch galt Neue Musik einst als ideologischer Kampfbegriff.

Von Jörn Florian Fuchs | 17.05.2020
Manuskript für Klavier und Orchester von John Cage aus dem Jahr 1958.
Manuskript für Klavier und Orchester von John Cage aus dem Jahr 1958. (imago stock&people)
Für manche ist schon Richard Strauss ein Neutöner, nicht im Zucker beträufelten "Rosenkavalier", wohl aber in der harschen Klangwelt von "Elektra" oder "Salome". Neue Musik, geschrieben mit kleinem "n" kann vieles meinen. Natürlich waren alle Werke anfangs mal neu und oft provokativ, ob gewollt oder nicht.
Richard Wagners berühmter, nicht aufgelöster Tristan-Akkord etwa verstörte das Publikum lange Zeit, heute zuckt man eher mit den Achseln, wenn einem die Besonderheit überhaupt noch auffällt. Wenn man unter neuer Musik unerwartete Entwicklungen, Einfälle, Sprünge in der musikalischen Struktur und Textur versteht, gehören sicherlich auch die späten Werke von Beethoven oder Liszt dazu. Beide verlassen einschlägige tonale Räume und gehen über ihr vorheriges Komponieren weit hinaus.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Nie gehört. Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Neue Musik mit großem "N" hingegen ist ein Fachbegriff, den der Musikwissenschaftler Paul Bekker im Jahr 1919 erfand. Er verstand darunter eine "Erneuerung des verbrauchten musikalischen Materials und der Musikempfindung". Bekker bezog sich vor allem auf Arnold Schönberg, der erst opulente spätromantische Stücke schuf, dann als Miterfinder der Zwölftontechnik Neuland betrat. Das war der Startschuss für zahlreiche, sich rasch ausdifferenzierende Kompositionsmethoden.
Auf den bald entstandenen Festivals oder Gesellschaften für Neue Musik kam es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen: Was war wirklich neu und eigenständig, was erinnerte zu sehr an die Tradition? Akzeptiert wurde, wer Materialfortschritt lieferte, also die Dinge weiter entwickelte.
Stärkster Gegenpol - reine U-Musik
Diese Grabenkämpfe findet man heute nur noch selten, in der Postmoderne scheint fast alles erlaubt. Es mischen sich Stile und Genres, da darf ein neues Stück ebenso locker jazzig wie anstrengend verkopft daherkommen. Unterscheiden kann man jedoch wie früher, ob es sich bei den Klangschöpfern um 'Emphatiker' oder 'Problematiker' handelt. Erstere schaffen eher aus dem Bauch heraus, die Letzteren eher aus dem Hirn, sie stellen sich kompositorische Aufgaben, die gelöst werden müssen. Auch hier verwischen aber manchmal die Grenzen.
"Neue Musik" war einst ein durchaus ideologischer Kampfbegriff, heute ist er reichlich schillernd und schließt vieles mit ein. Aber natürlich beileibe nicht alles. Niemand würde einen Schlager als Neue Musik bezeichnen, es sei denn, er ist Teil eines größeren Werks und wird etwa ironisch oder abwertend zitiert. Einfache, reine Unterhaltungsmusik ist wohl der stärkste Gegenpol zur Neuen Musik, so wie eine hübsche, bunte Fototapete wohl auch kaum den Begriff "moderne" Kunst verdient.