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Endlich mal erklärt
Wer altert im Coming-of-Age-Roman?

Wer vom Teenager zum Erwachsenen heranwächst, erlebt so einiges. Der Coming-of-Age-Roman erzählt davon, wie jugendliche Hauptfiguren mit sich und der Welt ringen. Früher sprach man vom Bildungsroman. Doch der musste dem cooleren Anglizismus "Coming-of-Age" weichen.

Von Maike Albath | 03.06.2020
"Die Reifeprüfung": Dustin Hoffman blickt interessiert auf das Bein von Anne Bancroft.
Erwachsenwerden in Film und Buch - Dustin Hoffman in der Verfilmung von Charles Webbs Roman "Die Reifeprüfung" (picture alliance / dpa / Bert Reisfeld)
Es klingt so wahnsinnig modern! Coming-of-Age-Roman! Da schiebt man doch gleich ein imaginäres "Wow!" hinterher. Dabei heißt "to come of age" auf Englisch nichts anderes als "mündig, volljährig werden". In dieser Sorte Romane altern also Jugendliche. Und es geht in der Regel um alle möglichen Fährnisse und Prüfungen auf dem Weg ins Erwachsenenalter. Am Ende der Geschichte ist irgendetwas passiert: Ein vielversprechender Held kommt unter die Räder; ein hässliches Entlein wächst zur strahlenden Frau heran; ein Dritter stolpert, strauchelt, fängt sich wieder und findet seinen Platz in der Welt. Handlungsverläufe dieser Art wirken auf jeden vertraut, und der Eindruck täuscht nicht, denn Geschichten über Heranwachsende sind so alt wie das Genre des Romans.
Prototyp: Goethes "Wilhelm Meister"
Nur war bis vor 25 Jahren in diesem Zusammenhang immer vom "Entwicklungsroman" oder "Bildungsroman" die Rede, und tatsächlich handelt es sich um genau dasselbe. Der Prototyp des Bildungsromans in der deutschsprachigen Literatur stammt selbstverständlich von Goethe, sein "Wilhelm Meister" (1795/96), dessen vollständiger Titel nicht zufällig "Wilhelm Meisters Lehrjahre" lautet, ist gewissermaßen die Urzelle dieser Spielart, obwohl Wielands "Agathon" (1766) noch ein bisschen eher erschienen war. Es geht um die Entfaltung bestimmter charakterlicher Anlagen, die sich häufig im Konflikt mit den äußeren Umständen herausbilden müssen. Ein Bewusstseinsprozess wird eingeläutet, der Held erfährt eine tiefe Prägung durch andere Menschen und seine Umgebung und reift schließlich, zumindest bei Goethe, zu einer sittlich gefestigten Persönlichkeit heran. Von Tieck über Novalis bis zu Gottfried Keller und Stifter gab es Nacheiferer, die, wie schon Karl Philipp Moritz mit seinem "Anton Reiser" (1785-90), die Reifung aber auch böse scheitern ließen.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Die Vorbilder aus anderen Literaturen stammten aus Frankreich und der Zeit der Aufklärung, als Erziehung eine Rolle zu spielen begann: Rousseaus "Émile" (1762) bildet so etwas wie den Ursprung. Ein Beispiel für einen Entwicklungsroman bietet bereits "Henry Fielding" (1749) von Tom Jones.
Mühen der Adoleszenz
Der Begriff des Coming-of-Age-Romans wurde vom Film übernommen, in diesem Genre kursierte er schon länger auch im deutschsprachigen Raum: 2006 fand die Formulierung als Fachbegriff aus der Filmsprache sogar Eingang in den Duden. Interessant ist nun, wieso es die Literaturkritik nötig hatte, sich dieser vermeintlich coolen Bezeichnung zu bedienen. Die Erklärung liegt auf der Hand und ist äußerst aufschlussreich. "Bildung" oder "Entwicklung" implizieren eine gewisse Anstrengung, es liegt die Befürchtung in der Luft, auch die Lektüre des jeweiligen Buches könne nicht so leicht ins Hirn laufen wie das Popcorn in den Magen beim "Coming-of-Age-was-auch-immer". Wussten Sie schon, wie Coming-of-Age-Romane in Frankreich, Italien, England und den USA heißen? Genau: Bildungsromane, auf Deutsch.