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Endlich mal erklärt
Wer hat eigentlich den Bestseller erfunden?

Lange Jahre waren Bücher teuer und nur wenigen Lesern vorbehalten. Heute sind sie nicht mehr elitär, sondern erschwinglich. Werke, die nicht nur eine kleine Gruppe interessieren, nennt man Bestseller. Sie verraten viel über die Gesellschaft, sind aber nicht immer die besten Bücher.

Von Maike Albath | 22.05.2020
Ein Bücherregal mit Bestsellern auf der Frankfurter Buchmesse, davor ein Schild mit dem "Spiegel Bestseller" Logo.
Wer auf der Spiegel-Bestsellerliste steht, darf sich über satte Verkaufszahlen freuen (imago images / Manfred Segerer)
Der Name lässt es schon erahnen: Bestseller, die eigentlich "better seller" heißen müssten, wie der angelsächsische Literaturprofessor und Buchmarktspezialist John Sutherland wunderbar spitzfindig anmerkt, kommen natürlich aus Amerika. Dort, wo alles größer, rasanter, moderner und eine Spur marktschreierischer ist, entstand das Phänomen im 19. Jahrhundert. Der Begriff tauchte erstmals 1889 in einer Zeitung in Kansas City auf.
Globale Phänome
Zu Kassenschlagern wurden fast ausschließlich britische Schriftsteller, die von ihren Verkäufen keinen einzigen Cent sahen. Bestseller gingen mit der Beschleunigung des Marktes und der Verbreitung moderner Drucktechniken einher. Bücher, die rund um den Erdball gelesen wurden oder zumindest auf einem Kontinent, gab es aber schon viel früher, auch wenn nur ein Bruchteil der Bevölkerung überhaupt lesen konnte.
Kulturgut wird zum Produkt
Dazu gehörte die Bibel oder Auszüge aus der Bibel, im 14. Jahrhundert Boccaccios Dekameron und Chaucers Canterbury Tales. In Deutschland war Sebastian Brants "Narrenschiff" (1494) das erfolgreichste Buch vor der Reformation. Vor allem im 18. Jahrhundert gab es eine ganze Serie europaweit gelesener Romane: Daniel Defoes "Robinson Crusoe" (1719), aber auch Swifts "Gulliver" (1726), Voltaires "Candide" (1759), Rousseaus "Julie" (1761) und dann Goethes "Werther" (1774). Bücher blieben kostspielig: Noch im viktorianischen Zeitalter kostete ein Roman in England häufig anderthalb Guineen, also etwa hundert Euro – in den USA gab es dasselbe Buch für 25 Cent. Dort war Literatur vor allem eines: ein Produkt.
Auf einem aufgeschlagenen Kunstlexikon liegt eine Brille
Spezialwissen der Kultur - Endlich mal erklärt Postdramatik? Nie gehört. Dystopie? Keine Ahnung. Jede Kulturszene pflegt ihre Fachausdrücke, weil sie griffig sind und zutreffend. Wir erklären endlich mal die Begriffe der Spezialsprachen und antworten auf Fragen, die man sich vielleicht nicht zu stellen traut. Denn Arroganz war gestern.
Einschlägige Listen
Als Bestseller gilt heute ein Buch, das die Grenze von 100.000 verkauften Exemplaren überschreitet. Flankiert wird das Geschäft durch einschlägige Listen. In Deutschland erschien die erste 1927 in der "Literarischen Welt" und stieß auf bittere Kritik – sie sorge für "eine weitere Verengung und Verflachung des geistigen Lebens", hieß es damals im Börsenblatt.
Sind Bestseller die besten Bücher? Nicht unbedingt. Meistens zählt die Story, nicht die literarische Qualität. "Vom Winde verweht" (1936) von Margaret Mitchell ist mit weltweit 30 Millionen verkauften Exemplaren bis heute einer der größten Blockbuster der amerikanischen Literatur und nicht etwa T. S. Eliots Gedichtzyklus "The Waste Land" (1922). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert wurden Dan Brown, Stephen King, Paolo Coelho oder Helen Fielding und Rosamunde Pilcher verlässliche Produzenten von glänzend verkäuflicher Ware.
Spiegel der Gesellschaft
Ein regelrechter Hype entstand um Rowlings Harry-Potter-Serie, Jojo Moyes Liebesgeschichten oder die Neapel-Reihe von Elena Ferrante. Soziologisch bleibt der Bestseller hochinteressant, denn er verrät uns viel über die Gesellschaft, die sie liest.