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Endlich mal erklärt
Wie groß ist das Kino?

Das ist "ganz großes Kino", lautet eine Redensart. Manche behaupten sogar, das Kino sei "bigger than life". Aber sind die Geschichten des Kinos tatsächlich größer als die, die das Leben schreibt? Und wenn ja: Warum?

Von Rüdiger Suchsland | 01.06.2020
Humphrey Bogart als Richard 'Rick' Blaine und Ingrid Bergman als Ilsa Lund Laszlo blicken sich in dem Filmklassiker "Casablanca" tief in die Augen. Zu einer Gala-Vorführung des Kino-Klassikers «Casablanca» anlässlich dessen Erstaufführung vor 60 Jahren haben sich am 11.8.2003 in New York Angehörige der beiden Hauptdarsteller Humphrey Bogarts und Ingrid Bergman getroffen. Mit dabei waren Bogarts Witwe, Hollywood-Schauspielerin Lauren Bacall, mit dem gemeinsamen Sohn Stephen Bogart, Ingrid Bergmanns Tochter, Schauspielerin Isabella Rossellini sowie zwei weitere Töchter. Der Siegeszug des Filmklassikers hatte im Januar 1943 begonnen. In diesem Jahr gewann der Streifen von Regisseur Michael Curtiz drei Oscars.
"Ich seh Dir in die Augen, Kleines" - Geschichten, größer als sie das Leben schreibt? (picture alliance / dpa)
Größe ist nicht alles. Im Kino aber schon - so scheint es zumindest: Große Gefühle, große Bilder, große Geschichten. Kino sei "bigger than life" - so lautet eine von vielen Beschreibungen. Und diese Beschreibung stimmt.
Denn Filmgeschichten sind immer überhöht. Vor allem in Hollywood und im amerikanischen Film. Tatsächlich gehört eine bestimmte Vorstellung von Größe seit seinen allerfrühesten Anfängen zum Kino dazu: Das Spektakel, das Noch-Nie-Gesehene, die Sensation des Jahrmarkts für alle Klassen, für alle Altersgruppen - so wurde Kino beworben.
Diese Erwartungen weckte das Kino aber nicht nur, es erfüllte sie auch. Der frühe Film konstruierte immer die Vorstellung des übermenschlich Großen. Verfilmt wurden Epen, die noch weit über alles hinausgingen, was im Roman oder im Theater geschah. Am ähnlichsten war das Kino der damaligen Zeit der Oper.
Lauter Türme von Babel
Das Babylonische, das Biblische: Verfilmt wurden der Ausbruch des Vesuv in "Die letzten Tage von Pompeji". "Quo Vadis" oder "Ben Hur" sind weitere berühmte Monumentalfilme. Kämpfe gegen riesige Ungeheuer zeigt "Der Dieb von Bagdad". Regisseure wie David Wark Griffith oder Erich von Stroheim sind im Zusammenhang mit solchen Filmen zu nennen, aber auch in Deutschland Fritz Lang, in Frankreich Abel Gance.
Das Kino selbst dachte in monumentalen Dimensionen - in vielen Teilen. Es wagte, riskierte, wollte mehr und größer sein. Es baute lauter Türme von Babel. Darum hat die Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen ihr großes Kino-Buch über die Anfänge von Hollywood auch "Babel & Babylon" genannt.
Zugleich wurde die Größe verinnerlicht - zu Melodramen und Liebesepen wie "Casablanca".
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Doch woher kommt eigentlich die Formel "bigger than life"? In den 1940-er Jahren wandte man sie auf Winston Churchill an. Auch gibt es einen Film von Nicholas Ray von 1956, der genau so heißt: ein Melodram.
Viel konzentrierter als das wirkliche Leben
"Bigger than life" ist eine bewußte, geplante Übertreibung. Sie bezieht sich auf die dem Kino innewohnende Lust an der medialen Stimulation der Affekte: Filme sind aufwühlend, packend und mitreißend. Kino bedeutet die Lust an einer Steigerung, Verdichtung und Zusammenballung der Gefühle. Daher ist Kino viel konzentrierter als das wirkliche Leben.
Der Sensationalismus und Monumentalismus des frühen Films barg in sich aber die Gefahr, schnell zu enttäuschen. Eine immer größere Dosis des Rauschhaften war nötig, immer größere Sensationen. So folgten auf Stummfilme, Musicals - darauf Monumentalfilme, darauf Breitwandfilme, darauf Katastrophen - und Monsterfilme, darauf Superhelden-Stücke.
Und schließlich folgte technisch 3-D. Alles nur um zu untermauern, dass Größe im Unterschied zu anderen Orten und Displays definitiv im Kino stattfindet - und nur dort.