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Endlich mal erklärt
Wie hält der Tänzerkörper die Belastung bloß aus?

Springen, Heben, Dehnen, Drehen: Was beim Tanz einfach aussieht, ist Schwerstarbeit. Die athletische Leistung im Ballett ist mit dem Hochleistungssport vergleichbar. Um Verletzungen zu vermeiden, ist ein spezielles Training erforderlich. Dazu kommen Ernährungs- und Schlafpläne.

Von Wiebke Hüster | 07.02.2021
Kseniya Ryzhkova und Alexander Omelchenko tanzen das pas de deux aus dem Ballett "Talisman"
Bis zu 50 Hebungen pro Choreografie - eine Höchstbelastung für Ballettänzer (picture alliance / dpa / Vladimir Vyatkin)
Die athletischen Leistungen von Tänzern und Tänzerinnen sind nur mit dem Hochleistungssport vergleichbar. Was so leicht aussieht, ist körperliche Schwerstarbeit. "Schwanensee" und andere klassische Ballette, aber auch die meisten Stücke von Pina Bausch dauern drei Stunden und länger. In zahlreichen Wiederholungen und Variationen heben Tänzer die Ballerinen hoch bis über den Kopf. Durch die Beschleunigung ist es ungefähr das anderthalbfache Körpergewicht der Ballerina, das der Mann über Kopf stemmen können muss. Zwischen drei und 50 solcher Hebungen können Choreografien enthalten. Bei 50 Hebungen summiert sich die Belastung in einer Vorstellung auf 2,5 Tonnen – soviel wie ein kleiner Laster etwa.
Wer solche Bewegungsabläufe nur im klassischen Training oder im Probenprozess übt, kommt schnell an die Grenze der Leistungsfähigkeit. In Vorstellungen ist das Stresslevel noch ungleich höher, infolgedessen ist das Limit eher erreicht. Dann wird es wirklich gefährlich, denn alle Parameter werden durch Ermüdung beeinträchtigt: Ausdauer, Kraft, Koordination, Gleichgewicht, und Schnelligkeit.

Mit der Belastung steigt die Verletzungsgefahr

Eine weitere Folge ist, dass längere Erholungsphasen nötig sind. Wer professionell in einer Show drei Wochen am Stück tanzt, die Premiere voll austanzt, versucht, das in der zweiten Vorstellung auch zu schaffen, der geht irgendwann über seine Grenzen. Wenn dann noch die Ernährung nicht stimmt, kommt es leicht zu einem Eiweißabbau, wodurch die Gefahr von Verletzungen zusätzlich steigt.
Neben den Hebungen sind es Sprünge, die maximale Leistung abfordern. Sportwissenschaftler wie Patrick Rump und Frank Appel, die Tänzer beratend und als Trainer unterstützen, erstellen die Pläne, um etwa berühmte Ballerinen wie Tamara Rojo oder Alina Cojocaru sportmedizinisch zu begleiten - auf der Basis von Datenerhebungen. Bei solchen Messungen stellte man etwa fest, dass Ballett-Sprünge, bei denen man auf einem Bein landet, für das Knie eine 14-fache Gewichtsbelastung bedeuten. Für einen Moment fängt das Knie eines 70 Kilo schweren Tänzers dann 980 Kilo auf.
An den Daten von Seriensprüngen in Tests lassen sich signifikante Unterschiede zwischen Tänzern und Sportlern ablesen. Tänzer springen gleichmäßig - nicht ganz so hoch, wie sie könnten, aber gleichmäßig. "Normale" Leute oder Sportler zeigen eine andere Performance: Den ersten Sprung führen sie sehr hoch aus, den zweiten auch, den dritten schon nicht mehr ganz so hoch, und so weiter.

Manche Tänzer haben Fitnesswerte wie Fußballstars

Tänzer schöpfen ihr Potential nicht ganz aus, sie bleiben notwendigerweise unter dem Limit, da sie ja nicht mit einem Sprung einen Rekord aufstellen wollen, sondern eine Variation mit vielen verschiedenen Sprüngen und anderen Bewegungen durchhalten müssen - und nicht nur eine, sondern viele Sequenzen in einer Vorstellung.
Ihr Problem ist sozusagen, dass sie zu wenig spezialisiert sind. Sprinter trainieren ihre 100-Meter-Distanz. Tänzer wollen in allem Spitzenleistungen bringen, sie wollen gut drehen, sehr gedehnt sein, weit und hoch und schnell springen – und viele tun das auch auf einem hohen Niveau. Manche Tänzer haben Fitnesswerte wie internationale Fussballstars. Aber insgesamt sind die Fitness-Werte von Tänzern sehr unterschiedlich. Ambitionierte Hobby-Athleten, die drei Mal pro Woche Krafttraining machen, haben unter Umständen bessere Fitnesswerte als Profitänzer.
Im Sport gilt die Aussage, dass wer ein phantastischer Fußballer werden will, einfach viel Fußball spielen muss. Natürlich erreicht man auch im Tanz durch mehr Training einen Vorsprung. Aber wenn alle viel trainieren, entsteht der Unterschied durch die Qualität des Trainings.
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Tänzer haben extrem wenig Zeit. Ihr Tag ist voll durchgeplant mit klassischem Training, Proben und Vorstellungen. Auch auf die Karrieredauer hin betrachtet, ist ihr Berufsleben ein Wettlauf gegen den altersbedingten Abfall der Leistung. Man will als Tänzer besser sein als die anderen, man will Ermüdung, Verletzungen und Unfälle möglichst vermeiden. Das - und diese Erkenntnis verbreitet sich nur langsam - ist durch zusätzliches, gezieltes Krafttraining zu erreichen.
Der Stress, der durch zu wenig Athletik entsteht, hat auch mental negative Auswirkungen. Gerade zeitgenössische Choreografen wollen den mitdenkenden, entscheidungsfähigen, improvisierenden Tänzer. Wenn aber Adrenalin ausgestoßen wird und die Ausdauer nicht reicht, erzeugt das Stress. Jemand der permanent am Limit arbeitet und unter Stress steht, kann mental nicht so schnell und entscheidungsfreudig reagieren. Denn der Körper ist in dem archaischen Stresszustand von: Soll ich weglaufen, mich tot stellen oder kämpfen?

Trainings-, Ernährungs- und Schlafpläne

Für die vielen verschiedenen Anforderungen in ihrer Kunst brauchen die Tänzer eine breite physische Vorbereitung: Kraft, Schnelligkeit, Ausdauer, Beweglichkeit, Koordination und Gleichgewicht müssen trainiert werden. Manches lässt sich nicht aus anderen Bereichen übertragen: Balance ist im Tanz spezifisch zu trainieren.
Athletisches Grundlagentraining muss schon in der Ausbildung mit eingebaut werden. Wenn es aber um Höchstleistungen von Solisten geht, müssen kurz-, mittel- und langfristige Trainingspläne aufgestellt werden sowie Schlaf- und Ernährungspläne.
Prävention und Therapie sind ein Investment in die Tänzergesundheit. Biomechanische und Trainings-Inhalte aus dem Hochleistungssport müssen auf das Tanzen angewandt werden. Viel zu lange sind Tänzerinnen und Tänzer vernachlässigt worden. Auch wirtschaftlich ist jede Verletzung ein Fiasko, denn es entstehen Kosten durch den Ausfall, die Umbesetzungen der Rollen und die Reha-Behandlung. Hochleistungstrainierte Tänzer aber verletzen sich nicht nur seltener, ihre Karrieren dauern auch länger. Eigentlich könnte der Tänzer lebenslang Tänzer bleiben, wenn man ihm endlich sportwissenschaftlich hilft.