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Endlich mal erklärt
Wie konnte Beethoven ohne Gehör komponieren?

Grandiose Klaviersonaten, visionäre Streichquartette und nicht zuletzt die Neunte Sinfonie: Ludwig van Beethoven schuf musikalische Meisterwerke, obwohl er schon früh sein Gehör verlor. Seine Kompositionen entstanden im Kopf - und womöglich war seine Schwerhörigkeit sogar ein Vorteil.

Von Elisabeth Richter | 16.12.2020
Zu sehen ist der Komponist Ludwig van Beethoven. Das Porträt wurde von August von Klöber angefertigt.
Komponierte aus dem Gedächtnis: Ludwig van Beethoven verlor wohl schon ab dem 20. Lebensjahr sein Gehör (akg-images / August von Klöber)
Was kann es Schlimmeres für einen Musiker geben, als das Gehör zu verlieren? Die eigene Musik nicht mehr hören zu können? Bei Ludwig van Beethoven machte sich vermutlich seit dem 20. Lebensjahr eine zunehmende Ertaubung bemerkbar. 1801 schrieb der damals 30-Jährige an einen Freund: "Meine Ohren, die sausen und brausen Tag und Nacht fort. Die hohen Töne höre ich nicht. Manchmal auch höre ich den Redner, der leise spricht, wohl, aber die Worte nicht. Sobald jemand schreit, ist es mir unausstehlich."
Hochton- und Sprachverständlichkeitsverlust, Verzerrungen und Überempfindlichkeit für bestimmte Frequenzen - so würde die Diagnose heutiger Mediziner lauten. Mit der Schwerhörigkeit war Beethoven auch mehr und mehr von sozialen Kontakten abgeschnitten.

Beethovens Festplatte

"Man muss dem Schicksal in den Rachen greifen", mit diesem Leitspruch zog sich Beethoven am eigenen Schopf aus seinem gesundheitlichen Sumpf. Er komponierte weiter. Meisterwerke wie die Sinfonien, seine Oper "Fidelio", grandiose Klaviersonaten und visionäre Streichquartette. Und: die Neunte Sinfonie sogar wohl in fast völliger Taubheit. Er leitete zwar 1824 die Uraufführung, aber als nach dem ersten Satz Applaus losbrach, hörte er ihn nicht. Die Musiker mussten ihn behutsam zum Publikum drehen.
Wie aber konnte Beethoven überhaupt mit seiner Schwerhörigkeit komponieren? Nur, weil er als Hörender geboren worden war, eine normale Ausbildung zum Musiker und Komponisten erhalten hatte, er die musikalische Welt seiner Zeit hörend erlebt hatte und sie in seinem musikalischen Gedächtnis - laut Forschenden liegt es in den Schläfenlappen der beiden Gehirnhälften - gespeichert hatte. Wie auf einer Festplatte.
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Für das Komponieren selbst ist ein reales Hören nicht nötig, es geschieht im Kopf, in der inneren musikalischen Vorstellungswelt. Musikalische Elemente wie Harmonik, Rhythmik und Melodien werden in eine kunstvolle Form gebracht. Möglicherweise konnte Beethoven leichter Neues erproben und radikaler und freier sein, weil er die Musik seiner Kollegen nicht hören konnte und auch keine Rücksicht auf Konventionen nehmen musste.