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Energiepolitik auf dem Holzweg

Die Energie-Wirtschaft steht am Scheideweg, erneuerbare Energien stehen gegen Atomkraft. Der Boom der Windräder dürfte im Juli enden, wenn Berlin an der Absicht festhält, längere Laufzeiten für Kernkraftwerke zu beschließen.

Von Sönke Gäthke | 06.06.2010
    Die Kernenergie ist eine Brückentechnologie, bis sie durch erneuerbare Energien verlässlich ersetzt werden kann. Dazu sind wir bereit, die Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke unter Einhaltung der strengen deutschen und internationalen Sicherheitsstandards zu verlängern. Wir werden ein Energiekonzept erarbeiten.

    Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung zum Thema Atom- und erneuerbare Energien.

    Die Bundesregierung stellt ihre Pläne für die Atomenergie auf den Kopf. Anders als bislang vorgesehen sollen die längeren Laufzeiten für die 17 deutschen Kernkraftwerke nicht Ergebnis des Energiekonzeptes sein, das voraussichtlich im Herbst von dem Bundeskabinett verabschiedet werden soll. Stattdessen soll es eine Grundsatzeinigung auf die Laufzeiten noch vor der Sommerpause geben. (...) Damit wäre die künftige Rolle der Atomkraft schon festgelegt, noch ehe die Weichen für alle anderen Bereiche des deutschen Energiemarktes geklärt sind.

    Soweit die Süddeutsche vom 21. Mai. Ähnlich liest sich auch das Handelsblatt. Damit ist die Katze aus dem Sack: Längere Laufzeiten haben nichts mit dem Umbau der Energieversorgung zu tun. Sie sind keine Brückentechnologie, keine Stütze auf dem Weg in eine CO2-freie Stromversorgung. Stattdessen sollen sie jetzt wohl 15 Jahre länger laufen. Ohne Rücksicht auf den Ausbau der Erneuerbaren. Damit steuert die Energiepolitik auf einen Holzweg. Oder besser auf drei.

    Der erste: Wind- und Atomkraft vertragen sich nicht. Technisch und wirtschaftlich. Sie behindern einander. Der Holzweg führt also nicht zu einer sicheren Stromversorgung, sondern nur zu neuem Streit. Der zweite Holzweg soll Kohlendioxid sparen, dank Atomkraft. Und der dritte Holzweg ist die Annahme, dass mit längeren Laufzeiten die Kernkraftwerke sicherer werden.

    Zum ersten Holzweg also: Berlin, das Congress Center, gleich hinter dem Alexanderplatz. Es ist Mittwoch, der 5. Mai. Heute trifft sich hier alles, was in Sachen Atomstrom Rang und Namen hat: das Atomforum und die Kerntechnische Gesellschaft haben zur ihrer Jahrestagung geladen, der Jahrestagung Kerntechnik. Und die Stimmung unter den Besuchern ist gut. Sie haben Oberwasser. Die Laufzeitverlängerung scheint so gut wie sicher; Ralf Güldner, der neue Vorsitzende des Vereins Atomforum e.V. fordert schon 28 Jahre mehr, insgesamt also 60 statt 32 Jahre Laufzeit.

    Das Atomforum empfiehlt als Gesprächspartner Christoph Wesselmann von der Atomtechnischen Zeitschrift atw. Und er sieht in Kernkraftwerken die idealen Verbündeten der erneuerbaren Energien.

    "Wir sind halt da, dass wir nicht nur sagen können, sondern auch zeigen können, umsetzen können, dass die Kernkraftwerke heute auch das können, nämlich zum Beispiel die schwankende Windstromerzeugung unterstützen können, was technisch bei der Inbetriebnahme nachgewiesen wurde. Nämlich sehr schnell auf Laständerungen reagieren, Kernkraftwerke können innerhalb einer Minute ihre Leistung um plus minus 10 Prozent ändern, was halt die Windenergie braucht, wenn der Wind wetterbedingt mal sehr schnell nachlässt oder auch mal sehr schnell zunimmt. Und wenn halt aufgrund der Einspeisung erneuerbarer Energien solche Flexibilitäten gefordert sind, ist das halt für die Kernkraftwerke ohne weiteres möglich."

    Bleibt die Frage: Vertragen die Kernkraftwerke das klaglos?

    "Weil die zusätzlichen Belastungen, die auf die Anlage zukommen, zum einen aus ganz anderen Gründen beim…, bei der Auslegung schon berücksichtigt sind, und die tatsächlichen Belastungen, die auftreten, im Vergleich zu allen anderen Anlagen die allergeringsten sind. Also, ich kenne einen – das Kernkraftwerk sieht aufgrund der Besonderheit halt nicht so sehr diese starken Lastschwankungen, weil es mit verhältnismäßig, für den Techniker, lauwarmem Wasser arbeitet, oder Wasserdampf arbeitet."

    In seiner Zeitschrift hat Christoph Wesselmann auch die Zusammenfassung einer Studie veröffentlicht. "Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke – Hemmschuh für den Ausbau erneuerbarer Energien?" von Matthias Hundt und anderen, vom Institut für Energiewirtschaft und Rationale Energieanwendung der Universität Stuttgart, unter der Leitung von Professor Alfred Voß. Zitat:

    Die in Deutschland in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke können aufgrund ihrer technischen Auslegung durchaus für den Lastfolgebetrieb genutzt werden. Für alle Kernkraftwerke ergibt sich bei konservativer Abschätzung ein Leistungsbereich von bis zu 9,6 Gigawatt mit Leistungsänderungsgeschwindigkeiten von 3,8 bis 5,2 Prozent pro Minute, mit denen sie ohne Einschränkungen zum Lastfolgebetrieb genutzt werden können. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Behauptung, eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke sei ein Hemmschuh für den Ausbau erneuerbarer Energien, aus technisch-betrieblicher Sicht nicht haltbar ist. Aus ökonomischer und die CO2-Emissionen betreffender Perspektive wäre ein Kernenergieausstieg sogar kontraproduktiv.

    Der Pfad erscheint breit, befestigt, leicht begehbar. Macht den Weg leicht begehbar, weist in die richtige Richtung: Atomkraftwerke können sich den Windkraftwerken anpassen, machen Kohle- und Gaskraftwerke überflüssig, sparen CO2 und sogar noch Geld. Und gefährlicher als der konventionelle Betrieb ist dieses Zusammenspiel von Wind und Atom auch nicht. Perfekt. Eine ideale Abkürzung auf dem Weg zur Regenerativen Energiezukunft. Das glänzt so sehr – das müsste doch eigentlich auch die Atomkraftgegner überzeugen. Wie zum Beispiel Gerd Rosenkranz. Er ist Werkstoff-Wissenschaftler und war jahrelang Mitarbeiter des Spiegel, dann im Streit gegangen – weil dem Chefredakteur Stefan Aust eine Windenergiegeschichte von ihm nicht gefiel. Heute arbeitet er für die Deutsche Umwelthilfe, ein schlanker, höflicher Mann, grauhaarig, in Jeans, sitzt er in einem kleinen Büro in einem der schön renovierten Altbauten genau hinter dem S-Bahnhof Hackescher Markt. Überzeugen ihn die Argumente für längere Laufzeiten der Meiler?

    "Reaktoren sind nicht dafür gebaut, ständig hoch- und runterzufahren, sie haben beim Rauf- und Runterfahren viel, viel größere Belastungen vieler Komponenten, es ist auch eine Herausforderung, Atomkraftwerke rauf- und runterzufahren, man kann das vergleichen mit Flugzeugen. Beim Fliegen ist auch nicht das Obensein das Gefährliche, sondern das Hochkommen und das kontrollierte Wiederherunterkommen. Und die meisten Unfälle, die es dort gibt, passieren genau dann, und nicht, wenn das fährt. Und so ähnlich ist das bei den Atomkraftwerken auch. Aber es stimmt, technisch sind Atomkraftwerke in der Lage, herauf- und herunterzufahren, in einem begrenztem Ausmaß; also in begrenzter Zahl pro Jahr und bis zu einer bestimmten Grenze nach unten. Also Sie können Atomkraftwerke von oben herunter fahren auf 40 bis 50 Prozent, und dann wieder rauf. Und das können Sie nicht beliebig oft machen. Die Werkstoffe ermüden, und Sie haben einen größeren Verschleiß, und dafür sind die nicht gemacht worden. Trotzdem können Sie es in begrenzter Weise machen, heute geht das auch noch, weil noch nicht so viel Strom da ist aus erneuerbaren Energien, wir haben im Moment 16, 17, 18 Prozent, aber in nicht einmal zehn Jahren haben wir doppelt so viel. Dann wird das, was heute eine Ausnahme ist, zum Alltag. Und die Atomwirtschaft selber sagt, wir können das in einem begrenztem Ausmaß. Die deutsche Atomwirtschaft betont das nicht gerade, aber man kann das nachlesen zum Beispiel in Großbritannien in einer Antwort auf eine Frage der Regierung. Dort schreibt der französische Staatskonzern EDF über den modernsten Reaktor, den es auf der Welt gibt, den Europäischen Druckwasserreaktor: Wir können das in einer bestimmten Anzahl von solchen Wechseln machen, aber nicht unbegrenzt. Und deshalb müssen wir die erneuerbaren Energie deckeln."

    Das liest sich dann in den Antworten auf die Fragen der britischen Regierung so. Zitat:

    25 Prozent erneuerbare Energien stellen die beste Plattform für eine weitere Senkung des Kohlendioxidausstoß im Stromsektor nach 2020 dar. Die wird erreicht durch eine Kombination weiterer Erneuerbarer, neuer Atomkraftwerke und Kohle- sowie Gaskraftwerke mit CCS-Technologie – also Kohlendioxid-Abscheidung.

    Und unter der Überschrift "Erneuerbare Energien" führt das Unternehmen aus:

    Wir stimmen der Analyse zu, der neue Europäische Druckwasserreaktor EPR kann ähnlich flexibel betrieben werden wie ein vergleichbares thermisches Kraftwerk. Allerdings gibt es bestimmte Grenzen für diese Flexibilität (wie sie auch für andere thermische Kraftwerke bestehen). Zum Beispiel kann der EPR fünf Prozent seiner Maximalleistung pro Minute hoch- oder runterfahren. Das geht aber nur im Leistungsband zwischen 25 und 100 Prozent der Leistung. Diese Zyklen sind begrenzt auf zwei Zyklen pro Tag und 100 Zyklen pro Jahr. Schnellere Zyklen sind möglich, aber nur in einem Leistungsband von 60 bis 100 Prozent der Leistung. Unsere detaillierte Analyse zeigt, dass wenn die Kapazität schwankender Erneuerbarer die von der Regierung angestrebten 32 Prozent erreicht, und wenn Windstrom nicht heruntergefahren wird (um das Erneuerbaren-Ziel zu erreichen), dann wird es nötig sein, zu versuchen, Kernenergie öfter herunterzufahren als praktikabel. Selbst wenn alle anderen Kraftwerke schon herunter gefahren sind. Die Folge: Es bleibt nur eine Option. Einmal heruntergefahren, müssten Kernkraftwerke für längere Zeit heruntergefahren bleiben.

    Mit den erneuerbaren Energien wollen sich die Energieversorger in Großbritannien also nur in Grenzen verbünden. Allen voran der Französische Konzern EDF. Der dürfte über großes Know-how in Sachen Atomkraftwerke verfügen: EDF versorgt Frankreich zu rund 70 Prozent mit Strom. Außerdem lässt er gerade eines der neuen Atomkraftwerke bauen, in Flamanville. Warum sollte es in Deutschland anders sein? Kernkraftwerke und erneuerbare Energie vertragen sich also nicht unbegrenzt gut. Versuchen Atomkraftwerke und Windräder Arm in Arm den Weg in die Zukunft einzuschlagen, werden sie sich bald streiten – darüber, wer Strom ins Netz speisen darf. Gerd Rosenkranz:

    "Ja, das ist ja das interessante, dass diese Bundesregierung, die ja den Konzernen etwas Gutes tun möchte, indem sie die Laufzeitverlängerung betreibt, den nächsten Großkonflikt genau mit diesen Konzernen heraufbeschwört, weil die im Gegenzug dann den Kampf aufnehmen werden gegen den Vorrang der Erneuerbaren im Netz. Den wir ja heute über das Erneuerbare-Energien-Gesetz haben."

    Atomkraft unterstützt Erneuerbare? – ein atomischer Holzweg. Führt ins Dickicht, zu Streit: Streit um die Vorfahrt von Windstrom im Netz. Dessen ist Gerd Rosenkranz sicher. Und er stützt sich auf Erfolge: Immerhin hatten er und seine Kollegen aufgrund eigener Berechnungen und der Kenntnis der Argumente auch vorhergesagt, Politik und Industrie werden aufgrund der Gutachten eine Laufzeit von insgesamt 60 Jahren fordern, begründet mit einer Strompreisersparnis von circa 200 Euro pro Jahr für einen vierköpfigen Haushalt und dem Entstehen von rund 100.000 neuer Arbeitsplätze. Gesetzt den Fall also, die Windkraft wird weiter ausgebaut und die Kernkraftwerke laufen weiter, könnte es passieren, dass bei zu viel Wind die Windkraftwerke aus dem Wind gedreht werden – und die Atomkraftwerke weiter rund um die Uhr bullern. Weil sie zwar ihre Leistung reduzieren könnten, aber eben nicht unbegrenzt. Und weil die Anlagen älter werden, und damit öfter repariert werden müssen.

    Kommt es so weit, passiert auch noch etwas anderes: Die Netze werden nicht umgebaut. Oder nur langsam. Weil die Windräder sich nach den Atomkraftwerken richten. Und damit die Erzeugung vorhersagbar bleibt. Ohne Stärkung der Netze aber dürften der Ausbau der Erneuerbaren schwierig werden. Dieser Weg endet also im Nichts. Aber Mitten in diesem Nirgendwo scheint sich ein neuer Weg anzudeuten. In eine neue Richtung. Ja, hier ist er: Wiederum ein breit angelegter Weg. Aber er führt in eine andere Richtung: Klimaschutz. Weil Atomkraftwerke ja so gut wie kein Kohlendioxid ausstoßen, und man dann auf den Neubau von Kohlekraftwerken verzichten, gar aus der Braunkohleenergie aussteigen könnte.

    Genau davon ist Claudia Kemfert überzeugt. Sie hat sich in den letzten Jahren einen Namen als Energieexpertin vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin gemacht, als jemand, der die Energieversorgung der Zukunft vor allem durch Erneuerbare garantiert sieht – und durch Atomkraftwerke. Damit der Strompreis bezahlbar bleibt und das Klima gerettet wird.

    "Ja, ganz genau. Denn es muss natürlich darum gehen, dass man eine sichere, aber auch klimaschonende und bezahlbare Energieversorgung der Zukunft hat, das heißt, wenn man die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert, braucht man keine neuen Kraftwerke hinzubauen, denn es ist ja so, dass in den nächsten zehn bis 15 Jahren die Hälfte der Kraftwerke, der Kohlekraftwerke vom Netz gehen aus Altersgründen. Wenn das der Fall ist, braucht man auch die alten Kohlekraftwerke nicht mehr…gilt für alle Kohlekraftwerke. Also, ich meine, Steinkohle heißt ja sowieso, dass wir in Deutschland noch fördern, geht ja nur mit erheblichen Subventionen, das braucht man – will man ja auch in der Zukunft nicht mehr, - gut, Steinkohle kann man billig immer noch importieren; Braunkohle produziert sehr viel Treibhausgase, und die haben wir zwar in Deutschland, die Braunkohle, aber gerade wenn wir die Kernkraftwerke verlängern, brauchen wir auf gar keinen Fall neue Braunkohlekraftwerke."

    Also doch. Man könnte mit Hilfe der Atomkraftwerke das Klima schützen – wenn wir auf die Kohle verzichten, die ohnehin niemand mehr haben will. Werden also die alten Kohlekraftwerke nicht durch neue ersetzt, sondern durch längere Laufzeiten und neue Windparks, ließe sich Kohlendioxid bei der Stromerzeugung einsparen. Kemfert:

    "Also laut Daumenregel kann man sagen, dass jedes Kernkraftwerk im Jahr, wenn es denn ein Kohlekraftwerk ersetzt oder ein Kohlekraftwerk vom Netz geht beziehungsweise nicht gebaut wird, bis zu fünf Millionen Tonnen CO2 einsparen kann, das heißt, wenn man alle Kraftwerke laufen lassen würde, wäre das in der Größenordnung von bis zu 90 Millionen Tonne CO2, die man pro Jahr dann auch tatsächlich einsparen könnte."

    Das wären gut 10 Prozent des gesamten CO2 Emission in Deutschland, bezogen auf das Jahr 2009. Noch besser wäre es, längere Laufzeiten mit einem Ausstieg auch aus der Braunkohle zu verbinden; Braunkohle lässt sich überhaupt nicht an schwankenden Windstrom anpassen, und sie erzeugt am meisten Kohlendioxid. Das müsste doch eigentlich selbst kühle Rechner überzeugen – wie etwa Felix Matthes vom Berliner Büro des Freiburger Öko-Instituts. Der Experten für Energie- und Klimapolitik rechnet vor, wie viel Kohlendioxid sich denn einsparen lassen könnte, wenn wir Kernkraftwerke länger laufen ließen.

    "Der Längerbetrieb der Kernkraftwerke sparet überhaupt kein CO2! Die paradoxe Situation ist ja, dass durch dies Längerlaufen von Kernkraftwerken gar kein CO2 eingespart wird; das klingt zunächst mal ungewöhnlich, aber wir haben eine emissionsarme Option Kernkraftwerke, wir haben aber auch ein regulatives Umfeld, nämlich den Emissionshandel. Wie gesagt, das Gute des Emissionshandels ist, dass wir die Emissionen ganz klar fixiert haben, das gilt nach oben, aber eben auch nach unten. Das Emissionsziel, und das ist das neue mit dem Emissionshandel, ist festgelegt. Wenn einer weniger emittiert, kann – vermittelt über eine entsprechende Preisreaktion für die CO2 Zertifikate, ein anderer mehr emittieren. Das heißt also, egal, was man in dem System tut, die gesamte Belastung des Klimas bleibt gleich, und von daher, und das ist die paradoxe Situation, hilft eine Laufzeitverlängerung dem Klima nicht."

    Die Grenze der jährlich erlaubten CO2 Menge wurde im April 2009 für die Zeit bis 2020 durch die EU festgelegt. Das war vor der Bundestagswahl, und damit vor der Debatte, die Laufzeiten für Atomkraftwerke zu verlängern. In das Emissionsziel, so Felix Matthes, ist die mögliche CO2 Reduktion durch Atomkraftwerke nicht eingerechnet. Wenn die den Kohlendioxidausstoß der Wirtschaft senken, dann

    "kann eine Zementanlage, kann ein Stahlwerk mehr emittieren, dass heißt also, das Paradoxe ist, der Längerbetrieb der Kernkraftwerke spart überhaupt kein CO2."

    Bis jetzt führte die Entscheidung, Atomkraftwerke länger laufen zu lassen, also auf einen ersten Holzweg, dem Konflikt zwischen Atom- und erneuerbaren Energien. Weil die Atomkraftwerke zwar reagieren können, aber nicht so oft und nicht so rasch, wie es für die Windstrommenge notwendig wäre. Fällt die Vorfahrt für Windstrom im Netz, ist der weitere Ausbau der Erneuerbaren fraglich. Von da führte ein zweiter Holzweg – die Hoffnung auf Klimarettung - noch tiefer ins Nichts: Kohlendioxid läßt sich nicht sparen, weil die erlaubten Grenzen festgelegt sind. Da in den nächsten Jahren viele alte Kohlekraftwerke ersetzt werden müssen, ist sogar folgende Entwicklung denkbar: Atomkraftwerke drücken die Zertifikatpreise für CO2. Windkraft lohnt sich nicht, weil sie keine Vorfahrt mehr hat. Vom Netz gehende Kohlekraftwerke werden dann durch neue Kohlekraftwerke ersetzt. Dafür aber entsteht mehr Atommüll; wie viel mehr ist jedoch unklar. Bliebe es bei dem Atomausstieg, fiel ein Volumen an von rund 303.000 Kubikmetern schwach radioaktivem Abfall – den Schutt abgerissener Meiler eingerechnet – und einen kleineren Volumen stark strahlendem Abfall. So das Bundesamt für Strahlenschutz. Das ganze passte auf ein Containerschiff.

    Aber der Weg ist noch nicht zu Ende. Gerd Rosenkranz:

    "Die Atomkraftwerke sind älter geworden und sie werden mit zunehmendem Alter nicht sicherer. Auch wenn die Atomlobby etwas anderes erzählt, aber da gilt eigentlich der normale Menschenverstand, das ist so ähnlich wie bei den Autos. Wenn die dreißig oder 40 Jahre alt sind, sind die auch nicht sicherer."

    Ein Pfad, dessen Eingang gut verborgen ist. Rosenkranz:

    "Das ist sicherlich ein Erfolg der Energielobby, dass man weniger über die Sicherheit diskutiert als über die Ökonomie.."

    Ja, es ist die Frage nach der Sicherheit der Atomkraftwerke. Zitat:

    Wegen ihrer großen Sicherheitsrisiken mit der Gefahr unübersehbarer Schäden ist die Atomkraft nicht zu verantworten. Deshalb wird die neue Bundesregierung alles unternehmen, die Nutzung der Atomkraft so schnell wie möglich zu beenden.

    So hieß es im Koalitionsvertrag der ersten Rot-Grünen Bundesregierung. Daran erinnert sich Wolfgang Renneberg. Er war bis zum Regierungswechsel 2009 der Leiter der Abteilung Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium. Heute lebt er in einem Einfamilienhaus am Rande Bonns.

    "Wie weit müssen wir denn überhaupt aus der Atomenergie aufgrund von Sicherheitsgründen aussteigen. Diese Frage ist eine Frage, die man nicht nur Experten stellen kann, denn welche Sicherheit eine Gesellschaft bereit ist zu wollen, welche Risiken zu tragen bereit ist, muss die Gesellschaft entscheiden, und insofern ist es erst mal auch eine politische Frage, ein politisch-bewertende Frage. Und diese politisch-bewertende Frage war ja nun mal durch die Wahl entschieden worden. Man sagte: Seien wir doch etwas flexibler, wir geben jedem Atomkraftwerk eine bestimmte Menge an Elektrizität, die es produzieren darf. Und diese Menge wurde berechnet aus dem, was man erwarten durfte aus einem 32 jährigem Betrieb für jedes Kernkraftwerk. Die 32 ist entstanden als Ergebnis eines politischen Verhandlungsprozesses."

    Kohlendioxid hat damals also noch keine Rolle gespielt – auch wenn der Klimawandel bereits erkennbar war. Renneberg:

    "Es war bereits auch 1998 klar, dass die fossilen Brennstoffe einerseits begrenzt sind, es war auch 1998 bereits klar, dass wir auf ein Klimaproblem zusteuern, auch wenn es im öffentlichen Bewusstsein damals noch nicht so deutlich diskutiert worden ist. Die Sicherheitsfragen für die Kernkraft stehen genauso wie damals, insofern hat sich an der Grundlage für diese Entscheidung nichts geändert."

    Ein Unfall würde heute wie damals einen ganzen Landstrich verstrahlen. Wolfgang Renneberg hält daher den Atomausstieg immer noch für richtig – was nicht heißen muss, dass diese Entscheidung in Stein gemeißelt wäre.

    "Jede Gesellschaft muss selber wissen, was sie will. Und wenn heute unsere Gesellschaft sagt, und ich meine die Gesellschaft, und nicht nur die Regierung, wenn heute die Gesellschaft sagt, ich möchte das Risiko von Kernkraftwerken, auch das Risiko von großen Unfällen in gewissen Maßen akzeptieren, zu Gunsten anderer Punkte, dann ist das eine Entscheidung, die nicht anzugreifen ist. Dann ist das die Verantwortung der Gesellschaft. Aber sie muss eben auch gesellschaftlich verantwortet werden. Und dazu gehört, dass man diese Sicherheitsdebatte führt. Man darf sie nicht draußen lassen."

    Ein Unfall – und das halbe Land ist verstrahlt. Ist irgendetwas an den Reaktoren verändert worden, dass im Fall eines Falles ein Unglück à la Tschernobyl verhindern könnte? Renneberg:

    "Nein, es gibt keine grundsätzliche Änderung der Ausgangsposition. Kernkraftwerke sind heute, genauso wie früher, grundsätzlich nicht sicher gegen einen Unfall, der katastrophale Ausmaße annimmt. Es gibt heute, und genauso wie früher, eine gewisse Wahrscheinlichkeit, mit dem ein solcher Unfall eintreten kann. Natürlich wird alles dafür getan, dass so etwas nicht passiert, aber ausschließen kann man das nicht."

    Die Gesellschaft hielt seinerzeit die Kernkraft also für einen Holzweg. Eine Technik, die ins Nirgendwo führt. Dafür aber erhebliche Risiken mit sich bringt. Nicht zu reden, von dem Abfall, den der Betrieb hinterlässt. Längere Laufzeiten führen also im Kreis herum. Zuerst zu einer Blockade der Erneuerbaren. Weil sie sich technisch und wirtschaftlich nicht sinnvoll der schwankenden Energieerzeugung anpassen können. Von da führt der Weg zu einer Verbilligung der CO2-Zertifikate. Weil die Erneuerbaren, vor allem der Wind, blockiert werden, Kohlendioxidausstoß aber billig, könnte das zu einem Neubau von Kohlekraftwerken führen. Und von da führt der Weg über die bislang verborgende Frage nach der Sicherheit der Kraftwerke wieder zurück zum Ausgangspunkt, zu Situation heute. Das wäre noch nicht so schlimm – wenn nicht inzwischen 15 Jahre vergangen wären. 15 Jahre, in denen sich die Energiepolitik im Kreis gedreht hat. Probleme verlängert hat. Den Umbau zur regenerativen Energieversorgung nur schleppend voranbringen kann. Neue Stromleitungen nur mühselig gebaut werden. Intelligente Zähler und Verbrauchsverlagerungen kaum nachgefragt und daher kaum verkauft werden. Die Industrie im Ausland aufholen kann, Deutschland seine Führung bei der Entwicklung intelligenter Netze, beim Bau von Windrädern, Solaranlagen, virtuellen Kraftwerke und effizienten Gaskraftwerken verlieren könnte.

    Erster Hinweis auf diese Entwicklung: Einem Bericht der Frankfurter Rundschau zufolge stellen erste Energieversorger den Bau von neuen Gaskraftwerken zurück. Genau diese Kraftwerke wären aber als Reservekraftwerke notwendig, wenn der Wind schnell nachlässt und ausgeglichen werden muss. Aber dafür hätte Deutschland ja 17 rasch alternde Kernkraftwerke – und 15 Jahre länger das Risiko, seine Landschaften bei einem schweren Unfall verstrahlt zu sehen.

    Moment. Die haben doch was vergessen. Was ist mit dem Fonds? Zur Förderung von Wind und Solar? Der mit den Zusatzgewinnen aus der Laufzeitverlängerung gegründet werden soll?

    Richtig. Soll. Aber ob? Und wenn ja, ab wann? Und mit wie viel? Alles offene Fragen ohne Antwort. Und die Sicherheit der Atomkraftwerke wird davon auch nicht besser.