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Engel in Amerika
Konflikte aus einer anderen Ära

Auf der Bühne steht nur ein gigantischer Spiegel. Sonst ist sie beim Stück "Engel in Amerika" im Hamburger Thalia Theater leer. Bastian Kraft inszeniert dort das Stück von Tony Kushner. Zwar ist es technisch faszinierend, aber inhaltlich aus der Zeit gefallen.

Von Alexander Kohlmann | 19.10.2015
    Der Schauspieler Matthias Leja als "Roy M. Cohn" in Hamburg im Stück "Engel in Amerika".
    Der Schauspieler Matthias Leja und seine Projektion im Stück "Engel in Amerika" in Hamburg. (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    Zum Schluss sieht es für einen kurzen Moment so aus, als könnten sie sich doch noch vertragen. Das Gespenst der toten russischen Agentin und der Mann, der sie vor Jahrzehnten auf den elektrischen Stuhl brachte. Jetzt liegt Roy aidskrank und einsam im Krankenhausbett und ruft sterbend nach seiner Mutter. Und die elegante Agentin im schnee-weißen Pelz tut ihm den Gefallen und singt ein Schlaflied, für den erzkonservativen Republikaner, der sein Leben lang geleugnet hat, ein Homosexueller zu sein.
    Die tote Agentin ist einer der Engel im Amerika der späten 80er Jahre. Ein Engel, den wir genau wie den kranken Roy im selben Moment gleich mehrfach gespiegelt sehen. Von oben im Bett, ganz klein auf einem riesigen weißen Kreis und real, direkt vor uns, im Bett auf der Bühne. Denn ein gigantischer Spiegel ist das, was von Bastian Krafts Inszenierung übrig bleiben wird. Ein riesiges, kipp- und schwenkbares Brennglas hat der Regisseur in die Mitte der ansonsten leeren Bühne des Thalia-Theaters gebaut. Gerade mit Hilfe dieses Brennglases gelingen Kraft ganz erstaunliche Bilder.
    Die erzählte Geschichte kann nicht mithalten
    Er kann nicht nur alles, was geschieht, spiegeln und Figuren wie den sterbenden Roy mit dem Blick von oben aufs Bett zeigen. Er kann die Menschen auf der Bühne auch vervielfältigen. Ein Videoteam fängt immer wieder Totalen ein, zeigt emotional-arbeitende Gesichter in der Nahaufnahme - und blendet die Bilder auf dem Riesenspiegel ein, auf dem wir dann manchmal zwei oder drei Versionen derselben Szene gleichzeitig sehen. Manchmal filmen die Kameras auch einfach einen beleuchteten Globus, der ganz vorne an der Rampe steht. Auf das Brennglas projiziert, wird er zu einem gigantischen, blauen Planeten, der angesichts des Geschehens auf der Bühne stumm und ungläubig seine unendlichen Kreise dreht. Die erzählte Geschichte aber, kann leider überhaupt nicht mit dieser faszinierenden technischen Installation mithalten.
    "Ich hatte einen feuchten Traum."
    "Das wurde aber auch Zeit."
    "Du bist enthaltsam gewesen."
    "Es war eine Frau."
    "Bist Du jetzt hetero?"
    Die Vorlage hat deutlich Patina angesetzt - und zeigt uns vor allem eins, nämlich wie sehr sich die Welt seit dem Ende der späten 80er Jahre weiter gedreht hat. Seltsam fern erscheinen diese Konflikte, in denen es immer darum geht, wer gerade homosexuell ist - und wer nicht.
    Konflikte aus einer anderen Ära
    Wenn etwa der republikanische Mormone Joseph seine vielfach gespiegelte Mutter mit einem alten Tastentelefon anruft und ihr gesteht, schwul zu sein - und sie ihn bittet, das doch geheim zu halten. Oder der am Ende sterbende Roy, der in einem Wutausbruch erklärt, Krebs zu haben, weil Aids ihn als Homosexuellen stigmatisieren würde. Oder der lebensfrohe Lockenkopf Louis, der seinen kleinen Freund Prior verlässt, als dieser mit dem Virus im Sterben liegt - einfach, weil er das Siechtum, das auch ihm die Lebensfreude raubt, nicht ertragen will. All das sind erkennbar Konflikte aus einer anderen Ära, die nicht mit unserer Lebenswirklichkeit zusammenpassen wollen.
    "Das gehört sich nicht, über den Glauben anderer Menschen zu lachen."
    "Entschuldigung."
    "Unserem Prophet ist ein Engel erschienen und das ist das, was ich glaube." "Entschuldigung, wirklich, aber ich finde vieles, was Sie glauben, sehr schwierig."
    "Was glaube ich denn?"
    "Ja, ja, ich bin homosexuell, ich habe Aids, ich kann mir schon vorstellen, was..."
    "Nein, das können Sie nicht, sich vorstellen."
    Nicht vergleichbar mit "Mad Men"
    Regisseur Bastian Kraft irrt, wenn er im Programmheft diesen Stoff mit den großen amerikanischen Serien wie "Mad Men" vergleicht, die den Fokus der Zuschauer auf vergangene Epochen wie die fünfziger Jahre lenken würden. Denn die erfolgreichen amerikanischen Serien sind für ein heutiges Publikum geschrieben. Wer "Mad Men" schaut, spürt in jeder Zeile die seit den fünfziger Jahren andauernden Gesellschaftsdiskurse. Es ist dieser Blick zurück aus der Gegenwart, der dieses große Epos zu einem Produkt unserer Zeit macht.
    Mit "Engel in Amerika" verhält es sich genau umgekehrt. Man spürt in jeder Zeile, dass der Autor noch nichts wusste von der gigantischen Transformation Amerikas in den letzten zwanzig Jahren, von einem schwarzen, demokratischen Präsidenten, den medizinischen Fortschritten bei der Bekämpfung von Aids - und vor allem von der Homosexualität und jeder anderen Variante der Sexualität als akzeptierter Normalfall. Was damals sensationell war, erscheint heute gestrig, man wünscht sich einen Text, dem es gelingt, die heutigen Engel der amerikanischen Gesellschaft darzustellen.
    Denn mit dieser ganz auf die Schauspieler gerichteten Erzählweise und der Gleichzeitigkeit von gespiegelten Totalen und dem Live-Geschehen auf der große Bühne, hat Bastian Kraft wenigstens eines bewiesen. Das Theater braucht sich mit seinem Mitteln hinter den großen seriellen Produktionen nicht zu verstecken. Es muss sich nur noch trauen, für seine Bühnen die eigenen, großen Stoffe der Gegenwart zu suchen.